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Der Unterschied zwischen Goethe und Ulrich Plenzdorf ist, daß der Klassiker „Die Leiden des jungen Werthers“ (damals führten Eigennamen in solchen Wendungen noch ein Genitiv-s) erlebt und erlitten, jedoch überlebt hat: Er reagierte auf menschliches Ungemach als Künstler und reagierte es ab, indem er sich die gefährliche Liebesgeschichte von der Seele schrieb. Tatsächlich starben, quasi epidemisch, etliche Leser daran.

„Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf haben keinem das Leben und ihn wahrscheinlich keine Vorgeschichte gekostet. Er reagierte literarisch gekonnt und politisch geschult auf die Lektüre, auf die sein Held nach der Verrichtung der Notdurft auf der Suche nach Papier gestoßen war: „Um irgendwas zu erkennen, war es zu dunkel.“ Und: „Leute, das konnte wirklich kein Schwein lesen.“ Aber: „Drei Stunden später hatte ich es hinter mir. Und war fast gar nicht sauer. Der Kerl in dem Buch, dieser Werther, wie er hieß, macht am Schluß Selbstmord.“ Auf solche stilistische Weise wird eine Analogie entworfen zwischen der Werther-Zeit und der DDR-Jetztzeit. Der junge Werther war wohl „verwahrlost“, sonst wäre ihm das nicht passiert. Der junge Edgar ist es auch. Lange genug war er der Musterknabe unter den Lehrlingen, doch er „entpuppt sich als Rowdy! Schmeißt die Lehre! Rennt von zu Hause weg!

Ich meine ...“ meint die Mutter, eine Leiterin.

Edgar gammelt, malt, arbeitet, verliebt sich in eine Verlobte in alter, wenn auch modern aussehender Weise. Kein Selbstmord, das wäre verjährt, aber man kann sagen, psychoanalytisch gesehen, er passiert ihm in Form einer . Fehlleistung: Kurzschluß beim Basteln mit tödlichem Ausgang. Die Darstellung: Knappe Erkundigungsdialoge nach Ursachen und Umständen seines Todes, dazwischen breit ergänzende Kommentare des Verstorbenen, der auf jede Nachrede das letzte Wort hat und in Modephrasen schwelgt. „Leute“ spricht er die Leser schier fünfzigmal an, und „das wäre echt säuisch!“ sagt er gern. Damit zeigt der Autor, daß er genau weiß, wie unecht heute das Wort „echt“ verwendet wird.

Und wenn ihm etwas wider die Natur geht, sagt er „das stank mich immer fast gar nicht an“, oder es hat ihn „immer fast gar nicht getötet“. Die Technik fordert zur Parodie heraus, und eine solche ist tatsächlich schon geschrieben worden, recht zutreffend sogar, und zwar in der Parodiensammlung „Das Hoche Lied“ (Zsolnay).

Plenzdorf hat das Thema auch bekanntlich für die Bühne ausgewertet. Er soll Anstände mit der Kritik dortzulande gehabt haben, die dürften aber nicht gravierend gewesen sein, denn er wurde 1973 durch die Akademie der Künste der DDR geehrt. Erfolgsgeheimnis hüben und

drüben: Sozialistischer Realismus, der sich hämisch gebärdet, ohne es zu sein.

„Der Sohn eines Landarbeiters“ von Michael Scharang ist die verlängerte und veränderte Romanversion des (artistisch weit überlegenen) Fernsehfilmes „Der Sohn eines Landarbeiters wird Bauarbeiter und baut sich ein Haus“, bei dem Axel Corti mehr als Regie geführt zu haben scheint. Auch der Film war sozialkritisch, durchaus, aber die Nacherzählung erweist sich als anödendes Beispiel jenes öden „sozialistischen Realismus“, der die wirklichen Verhältnisse doktrinär vereinfacht, und literarisch primitiv wirkt. Das passiert sogar der großen Anna Seghers, seit sie allzu brav dem Diktat folgt statt ihrer eigenen Diktion, und was Scharang da im falschen Volkston zusammenschreibt, erinnert nirgends mehr an seine effektsicher pointierte Polemik „Schluß mit dem Erzählen“ vor ein paar Jahren. Schwarzweißtechnik fördert Kitsch, ob sie nun romantisch oder — wie hier — antiromantisch orientiert ist. Es gibt ohne Zweifel miese Unternehmertypen (samt ihren Managern als hochdotierte Mitläufer), aber so typisiert dürften sie nicht sein, sonst blieben sie erfolglos. Und wie die linke Literaturtheorie es befahl, der junge Franz Wurglawez, die Titelfigur, lebt und stirbt rechtschaffen, auch wo er unrecht tat und seiner Baufirma Zement stahl; es geschah unter dem Druck der Verhältnisse und den Eindruck der Ubermacht allgemeiner Gaunerei. Wer sich auflehnt, ist gut, und wer gut ist, lehnt sich auf, das mag stimmen, doch auf Gewerkschaftsebene wird die intellektuelle Dialektik zu einem viel zu simplen Politikum. „Die beiden Alten saßen starr beim Tisch“ nach dem Selbstmord des Sohnes im Gefängnis. Sie werden am Ende gefragt, warum er sich umgebracht habe. „Die beiden Alten wußten es nicht.“ Der Roman will wohl eine Erklärung Hefern, die fatal einseitig bleibt; denn der Mensch ist zwar ein Zoon poli-tikon, aber keineswegs nur ein politisches Lebewesen.

DIE NEUEN LEIDEN DES JUNGEN W. Von Ulrich Plenzdorf. Suhrkamp Taschenbuch 300. 150 Seiten, öS 38,50.

DER SOHN EINES LANDARBEITERS. Von Michael Scharang. Luchterhand-V'erlag, Darmstadt, 196 Seiten, öS 184,80.

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