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Mare Cognitum

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An der Ecke war ein Gemüsegeschäft. Traditionsgemäß nannte man es in dieser Gegend „schmutziges Geschäft”, wobei es schon lange her war, seit man diesen Ausdruck geprägt hatte, um es genau zu sagen, seit man in der Stadt wieder polnisch sprechen durfte, also seit dem letzten Weltkrieg, aber noch bevor der koreanische Krieg anfing, und deswegen eben sage ich, daß es lange her ist, denn es vergingen so schrecklich viele Jahre, und besonders, wenn man nachdenkt, was in den Jahren alles vorgekommen war, hat man den Eindruck, daß es doch unmöglich ist, heute noch zu wissen, wie damals die Auslagen des Geschäftes aussahen, so ganz anders als die jetzigen, mit kleinen Fenstern, die von innen mit grünen Holzläden abgeschlossen, mit ausgebleichtem Etwas ausgelegt und mit einigen, immer verwelkten Gemüsebündeln verziert waren. Die Leute haben es aber nicht vergessen, bestimmt nicht alle, der Großteil behielt das Geschäft im Gedächtnis, denn es ist schon so, daß man schnell und einfach einen Menschen vergißt, sogar einen solchen, dem man bis zum eigenen Tode nachsinnen und so die Erinnerung durch Erzählungen ständig von Anfang an auffrischen und beleben sollte, man hat aber ein Ge- müsegeschäft im Kopf, und da mangelt es an der Kapazität für etwas anderes, aber das ist vielleicht gut so, denn einen Menschen wird letztens irgend jemand doch vor dem Vergessen retten, am besten er selbst, solange er lebt und etwas tut, ein Gemüsegeschäft aber — na ja, es sah einmal so aus, wie ich schon sagte, ist heute nach den Vorschriften der modernen Architektur umgestaltet und einzig noch verstaubt und dreckig wie damals, was aber beim Gemüseverkauf eine normale Sache ist.

Die Straße entlang, von dem Geschäft an der Ecke, auf derselben Seite gehend, kam man zuerst bei einem, dann bei noch einem und zum Schluß, kurz vor der nächsten Kreuzung, an einem dritten grünbemalten Tor vorbei, das für mich aber nach wie vor braun-gelblich war, denn so habe ich es von der frühesten Kindheit her in meinen Erinnerungen behalten, nicht verstehend, warum jemand, der Hausbesitzer bestimmt, oder vielleicht nur ein Anstreicher, dem man bei der Arbeit zuviel Freiheit gelassen hatte, meine Erinnerungen so sinnlos mißachtend mit der grünen Farbe dem Tor nicht nur seine ganze Seriosität und Würde nahm, aber auch eine gewisse Wärme auslöschte und noch jetzt, immer, wenn ich nach einer längeren Abwesenheit zurückkomme, wirkt der bloße Anblick des Tores wie eine Ohrfeige, so grün und fremd, daß es mir fast unmöglich ist, mich zu erinnern, wie ich, als zehnjähriger Junge, bei diesem Tor herausstürzte, unbesorgt und fröhlich lachend, die Autos mißachtend, über die Straße zum gegenüberliegenden Gehsteig lief, dort ausrutschte und an den zum Rundfunkgebäude führenden Stufen ein großes Stück meines Vorderzahnes abgebrochen habe, was wiederum bedeuten würde, daß ich etwas sehr Wichtiges vergessen habe, Wichtigeres als das „schmutzige Geschäft”, als diese zwei Kriege, die ich schon erwähnte, denn heute bin ich erwachsen und weiß über sie Bescheid^die mich aber damals, obwohl der eine soeben zu Ende war und der zweite bald anfangen sollte, nichts angingen, es ging mich das große Stück meines Zahnes an, und seinetwegen weinte ich.

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