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Minervas Eulen

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Als Johny Kay in jenen inneren Hof geriet, der an allen vier Seiten von hohen, gelben Mauern umgeben war — freilich sind alle inneren Höfe so ummauert, oder ist auch das nur eine voreilige Annahme ?—nieselte der Regen sanft in den himmelwärts aufgesperrten Mund des morgendlichen Halbdunkels. Ja, das Licht verbreitete sich zweifellos von unten her, denn es war noch vollkommen dunkel. Man konnte auch die Wächter nicht sehen, die in einem der obersten Zwischenräume hausten, die die Mauern in Stockwerke teilten. Erst später konnte man wahrnehmen, daß es nur sechs waren, die mit stechendem Blick in den Abgrund des Hofes hinunterspähten: vier Engel und zwei Ochsen, die im Türkensitz hockten.

Johny Kay nahm auch jetzt keine Notiz von ihnen. Er grenzte sich sogar von seinem eigenen Namen ab und hielt sich streng daran, nur einer unter den anderen zu sein. Daran konnte er sich schon deshalb klammern, weil er genau so im Matsch herumrannte, wie die anderen kahlgeschorenen Männer und Frauen, die das Gewebe ihrer bunten Fetzen nicht gewand-, sondern zeltähnlich umriß, so daß ihre Nacktheit hier und dort herausschlüpfte.

Manchmal berührte er seinen kahlen Kopf und spürte, daß die Hand feucht wurde, wahrscheinlich hatten auch die anderen beim Streicheln ihrer Köpfe feuchte Hände. An einen Namen hätte man sich nicht so anklammern können. Ein Name ist etwas viel unwirklicheres, als kollerte er von einer Waschpulver- oder Mundwasserreklame herunter; die abgeblätterten Buchstaben fügten sich vor seinen Zehen plötzlich wieder zusammen, eigentlich nur, um ihnen einen Tritt versetzen zu können.

J. K. spielte eine Zeitlang damit herum, den Buchstaben, die seinen Namen bildeten, Tritte zu versetzen. Diese Beschäftigung erzeugte plumpsende Töne, als hätten seine Stiefel einen Sack berührt, der mit einem leichten Material vollgestopft war. Die kahlen Kameraden schwangen ihre Beine hin und her, doch sie versetzten Tritte den Leichen, die auf dem Boden ausgestreckt lagen. J. K. wich den Toten aus. Sogar sich selber gegenüber bewahrte er Distanz indem er die Ansprache in dritter Person niemals mit irgendeiner Schulter-Klopfenden-Zutraulichkeit verschandelte.

„Schauen Sie”, sagte er, „Sie werden diesen dreckigen Leichen niemals Tritte verpassen, nicht weil in der Reinheit etwas steckt, was man aufbewahren könnte und auch nicht, weil die Wächter, von denen man ohnehin nichts sieht, aufpassen. Uberhaupt nicht deswegen.”

Inzwischen wurde es immer heller und dadurch wurde die Düsterkeit des mit Leichen und Exkrementen bedeckten Hofes, so ihn jemand begutachten wollte, immer augenfälliger. Doch niemand beachtete den Hof. Auch nicht die Wächter, deren Blicke nur den Bewegungen der Gestalten folgten, die in eine Richtung rannten. Die Engel strengten schielend ihre Augen an, um ein Kettenglied des Kreises in Evidenz zu halten. Der eine Ochs wischte seine Augengläser und summte das Weihnachtslied „Ihr Kinderlein kommet” vor sich hin. Von unten konnte man das nicht so klar ausnehmen, die Melodie erinnerte an das schleimige Eiweiß, das aus der gesprungenen Eierschale der Zeit hervorsickerte; es tropfte auf einen der anderen hinunter und auch auf die klebrigen, kurzen Borstenhaare von J. K.

Merkwürdig, es gibt eine glänzende Glaskugel, sie zerspringt und rollt weg. Jemand in kurzen Hosen, mit dürren Beinen jagt ihr nach. Dann schups, die Kugel fällt in eine Pfütze, wo vorhin Pferde uriniert haben, so kann man sie nicht mehr herausfischen. Na wenn schon! Ein größeres Übel ist, daß der Hintern der Menschen brennt, zu viel Greueltaten haben sich daraufgeklebt, man kann nicht mehr heraustasten, wo die Haut und wo die Unterwäsche ist, die Fäulnis hat sich vermischt. Das ist unangenehm, auch der Hunger. Mit stumpfgenagten Nägeln ist es schwer, irgendwas zu kratzen. Die Wächter haben sicher schön manikürte Hände. Auch die Ochsen. Vielleicht, weil sie hoch oben leben. Nur die Eulen leben noch höher. Diese freilich schlafen zu dieser Tageszeit. Sie nehmen von J. K. und den anderen keine Notiz. Oder zählen sie im Traum bereits ihre Beute? Das ist kaum anzunehmen.

„Die Eulen, die Eulen!” J. K. wußte nicht, ob er das gebrüllt oder geflüstert hatte. Änderte jedoch die Lautstärke auch nur irgend etwas an der Ansprache? Kaum. Sie fügt etwas hinzu, Liebe Angst, Leidenschaft. Was? Leidenschaft. „Verstehen sie das?” fragte J. K. als wäre er einer unter den anderen. Er zuckte mit der Schulter, verstand nicht. Auch der Hof verstand ihn nicht und hüllte sich in Schweigen; nur der Chor der mit Tritten traktierten plumpsenden Leichen hallte wider. Es nieselte noch immer, J. K. fühlte es nicht, nur wenn er einen Gedanken mit einem Kopfstoß hinter sich zu bringen versuchte.

Da richtete er sich auf und ein Regentropfen oder der Speichel vom „Ihr Kinderlein kommet” tropfte und benetzte wohltuend seine rissigen Lippen. Er wieherte. Aber nicht darüber. Eine noch undefinierbare Ahnung ließ das Gewieher in seinem Mund gurgeln. Er fürchtete, daß er — wenn es hervorbrach — traurig wurde. Deshalb behielt er es einstweilen für sich, seine Backenknochen zuckten hie und da vor Anstrengung.

„Und die Eulen, die Eulen” wiederholte er, „doch die schlafen ja.” Kaum hatte er es hervorgebracht, als er draufkam, worin er sich verwickelt hatte. „Wie Lämmer hat man uns geschoren”, skandierte er vorsichtig. Das aber war von der Seite der Wächter nicht sehr aufmerksam den Eulen gegenüber. Die Eulen brauchen das Fell und die Federn, denn ohne sie sind sie nicht fähig, die Kadaver zu verdauen, gewiß nicht!

Er richtete sich auf und beschleunigte die Schritte. Auch die anderen gingen schneller. Eine nur aus Haut und Knochen bestehende Frau lief an der Spitze; sie ging manchmal in die Hocke, als verrichtete sie ihre Notdurft. Bei dieser Bewegung schüttelte sie sich jedes Mal, hob hastig die Hand vor die Augen, ihre verdorrte Brust schlüpfte aus der Bluse hervor. J. K. überlegte, in welche Richtung sie sich wohl fortbewegten, dem Süden oder dem Norden zu. Zwischen den beiden Richtungen bestand zweifellos ein großer Unterschied. Gegen Süden werden die Fledermäuse immer größer. Merkwürdig, am Ende verwandeln sie sich in fliegende Hunde. Und zählt das etwas? Nein, auch das zählt nicht. Das einzige von Bedeutung war dieses Rund-herum-Rennen, diese monotone, bis zur Auflösung dauernde Ewigkeit. Das andere, die Himmelsrichtungen, das „Ihr Kinderlein kommet”, na und die Glaskugel, das war nur das Vorgepiepse des Ganzen.

Er sah, wie einige von den Leichen, denen sie vorhin noch unbändige Tritte versetzt hatten, in die Knie fielen. Scheinbar waren sie müde geworden. Das war alles. Sein Körper glühte, der lauwarme Matsch kitzelte seine Sohle.

„Hüh”, rief er, „hüh”, und er lief der mageren Frau nach. — Er befürchtete, daß sie, wenn er sie nicht rechtzeitig einholte, zusammenbrechen würde.

„Hüh, auch Sie?” schrie er sie an, als er schon unmittelbar hinter ihrem Rücken schnaufte.

„Auch ich”, antwortete die Frau.

„Noch nicht, bloß nicht”, schrie sie J. K. an. „Laufen wir noch ein bißchen.”

„Wie lange?” fragte die Frau.

„Bis die Dämmerung hereinfällt.”

Dann wurde es Abend. Minervas Eulen flogen mit langsamer Würde empor.

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