6844928-1976_14_10.jpg
Digital In Arbeit

Mord im Rückspiegel

Werbung
Werbung
Werbung

Kein Gala-Abend bei der diesjährigen Ballettfestwoche der Bayerischen Staatsoper, dafür aber zwei Premieren: Am Eröffnungsabend die Uraufführungen von Walter Haupts und Dieter Gackstetters „Moira“ sowie die 3. Symphonie von Saint-Saens in der Choreographie Erich Walters und am Abend darauf die Neueinstudierung der Cranko-Choreographie der „Widerspenstigen Zähmung“ (in den Hauptrollen Konstanze Vernon und Peter Breuer) und für zwei Abende das Gesamtgastspiel der Bejart-Truppe aus Brüssel mit „Notre Faust“ nach Bachs h-Moll-Messe.

Das Münchner Staatsopernballett hat sich also durchaus Maßstäbe gesetzt, und schon am ersten Abend waren die solistischen Leistungen bestechend gut. Dabei konnte Münchens gefeierte Primaballerina Konstanze Vernon in der Saint-Saens-Symphonie mehr überzeugen als in „Moira“, in dem neben Gislinde Skroblin, Youri Vamos und Ferenc Barbey vor allem Ivan Liska (Orest) durch eine gestalterische Leistung faszinierte. Bei Saint-Saens konnte die Vernon dann konkurrenzlos brillieren und ihr zur Seite Peter Breuer, in dem, nach dem tragischen Tod Heinz Bosls, wieder ein echter Partner für Kornstanze Vernon gefunden sein dürfte. Zusätzlich sollen vor allem noch Colleen Scott und Youri Vamos für alle übrigen Mitwirkenden genannt werden.

Doch zunächst zur Choreographie der 3. Symphonie, der sogenannten „Orgel-Symphonie“, von Camille Saint-Saens. Wie konnte Erich Walter einer derartigen Geschmacksverirrung erliegen? Dieses Werk ist heute unerträglich in seiner banalen Melodik, und wenn Gounod von einem „Beethoven frangais“ sprach, dann kann man nur das Nichtvorhandensein von Gounods Urteilskraft beklagen! Muß sich denn jetzt im Zuge einer schon posthumen Nostalgiewelle auch noch dieser Seelen- und Gemütsbrei über uns ergießen und das Ganze noch zusätzlich choreographiert, also absolute Musik in eine Aneinanderreihung von Assoziationen aufgelöst werden? Wenn es frappierende Einfälle gegeben hätte, oder ironische Pointen, aber nein, da wird der ganze Kitsch einer restlos überholten Musik mit Akribie in Tanz umgesetzt, da schmachten sie vor sich hin, von Or-

gelklängen eingelullt, daß einem schier die Augen überlaufen.

Die große Überraschung hatte bereits stattgefunden, denn der Abend begann mit der Uraufführung von „Moira“, einem Ballett von Dieter Gackstetter, dem Direktor des Münchner Staatsopernballetts, und Walter Haupt, seines Zeichens Schlagzeuger im Bayerischen Staatsorchester und Leiter der Experimentierbühne der Bayerischen Staatsoper. Gackstetter versucht in diesem Opus eine tänzerische Interpretation des mythologischen Elek-tra-Stoffes. Im Mittelpunkt steht die Ermordung des Atridenkönigs Agamemnon. Der Ablauf der Handlung vollzieht sich in der Form einer Rückblende. In seiner Choreographie bedient sich Gackstetter neben expressionistischen Elementen auch der Bewegungsabläufe außereuropäischer Traditionen. Es ist gelungen, eine eindrucksvolle Geschlossenheit zu erzielen und — im Gegensatz zur Saint-Saens-Symphonie — hat hier auch der Ausstatter Pet Halmen zu einer optischen Versinnbildlichung beigetragen, die dieser Geschlossenheit dienlich ist. Der wesentlichste Pluspunkt ist allerdings die Musik Walter Haupts. Diese Musik ist autonom kaum vorstellbar, aber genau das ist ihre Stärke, denn sie ist Ballettmusik im besten Sinne dieser Gattung, sie ist eine Musik für das Ballett, denn sie schafft Atmosphäre und gibt rhythmische Impulse. Haupt hat die Partitur in traditioneller Weise niedergeschrieben, 140 Seiten in exakter Notation, er hat Klangschichtungen und flächige Überlagerungen geschaffen, unterbrochen von kräftigen Blechbläserakzenten und aufwühlenden Schlagzeugekstasen. Haupt — in erster Linie als ein Mann der Elektronik bekannt — hat das Risiko auf sich genommen, für manchen Superavantgardisten ab sofort als reaktionär zu gelten, aber er hat bewiesen, daß er das Handwerk des Komponierens beherrscht, daß er sich auch in der Besetzung eines Strawinsky-Orchesters musikalisch zu artikulieren versteht, und er hat darüber hinaus erstmals gezeigt, was für ein hervorragender Dirigent er ist. Auch sollte dem Bayerischen Staatsorchester ein vorbildlicher Einsatz für das Werk eines Kollegen bestätigt werden. Der große Erfolg für alle Mitwirkenden dieser Uraufführung war voll und ganz gerechtfertigt. Karl-Robert Danler

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung