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Neuer Exodus aus dem marxistischen Musterland

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Auf den Schreibtischen der DDR- Behörden türmen sich die Anträge zu Bergen. Es geht um die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft Prominente dieses Staates, wie der jüngst wegen eines solchen Antrags inhaftierte Ostberliner Sprachwissenschaftler Hellmuth Nitsche, schätzen die Zahl der bisher eingereichten Anträge auf über 200.000. Damit würde, sämtliche nahen und weiteren Familienangehörigen eingerechnet, bald die Millionen- grenze erreicht sein.

Eine Lawine ist in Bewegung geraten, die - würde sie nicht rechtzeitig gestoppt - für den ostdeutschen Staat ähnlich katastrophale Folgen hätte, wie die stille und stetige Emigration in den anderthalb Jahrzehnten bis zum Mauerbau. Hunderttausende von Bürgern im Erwerbsalter, von denen keiner materielle Not leidet, die sämtliche sozialen Sicherheiten genießen und denen täglich frei Haus durch die Massenmedien der baldige Untergang des Westens, der Bundesrepublik vorneweg, prophezeit wird: was treibt sie zum Aufbruch?

Die gesamte Ostpolitik der Bundesrepublik hatte zum erklärten Ziel, den Menschen der DDR auf dem Umweg über Kontakte mit deren Regierung Erleichterungen zu verschaffen. Oft in ihrer Wirkung angezweifelt, kann die gute Absicht dieser Ostpolitik nicht bezweifelt werden. Millionen von Bundesbürgern, einschließlich West-Berlins, haben in den fünf Jahren seit dem Grundvertrag Angehörige und Freunde in der DDR besuchen können. Jeder von ihnen war ein Botschafter seines Landes; keiner verschwieg, was er für die größere Freiheit seines Lebens an moralischen und materiellen Anstrengungen aufzubringen habe. Illusionen wurden auf beiden Seiten erfolgreich abgebaut.

Und nun: täglich neue Fluchtberichte, oft waghalsigster Art. Und nun: Auswanderung eines Schriftstellers, der für Zehntausende dort drüben Trost und Hilfe war. Und nun: Hunderttausende, die unter Berufung auf die Schlußakte von Helsinki selbst Schluß machen wollen mit diesem Staat, in dem sie ihre Lebensziele nicht verwirklichen können und der ihnen von der Wiege bis zur Bahre vorschreibt, was zu denken, zu glauben und zu hassen ist. Das ist eine Bankrotterklärung, von den Schuldnern erzwungen und den Gläubigem präsentiert, wie sie nicht drastischer denkbar ist.

Selbstverständlich muß die DDR alles daransetzen, um diese Lawine abzufangen. Die Situation ähnelt jener von 1968: Der Prager Frühling, konsequent zum Sommer geweitet und zur Massenbewegung der Bürger geworden, hätte die Grundfesten des sowjetischen Imperiums erschüttert. Ohne einen Schuß abzugeben, hätte der Westen die auf der unglückseligen Potsdamer Konferenz festgeschriebenen Interessensphären überschritten. Die Auswanderung von einer Million DDR-Bürger hätte ähnliche Folgen. Die gutgemeinten Beschwichtigungsparolen mancher westlicher Politiker, man dürfte den Ost-Löwen nicht reizen, wären allenfalls noch ein Spottreim spielender Kinder, wenn dieser neue Exodus aus dem marxistischen Musterland gelänge.

Professor Nitsche hat mit der Freiheit für seinen Antrag auf „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft“ - Gewährung einer Gnade also, vergleichbar der Herabsetzung des Strafausmaßes bei einem „Lebenslänglichen“ - bezahlen müssen. Schon damit hat die DDR die von ihr unterschriebene Charta der Menschenrechte flagrant verletzt: Freizügigkeit, wie sie dort beschworen wurde, gehört zu den elementaren Menschenrechten. Die Gefängnisse der DDR reden eine andere Sprache.

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