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Ost-West-Drehscheibe

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Sevilla liegt im halbmodernen Nirgendwo, die Zigarettenfabrik — Carmens Arbeitsstätte — hängt in der Luft, d. h. als Soffitte vom Schnürboden herab. Auf der Szene agieren nicht Soldaten, Arbeiterinnen und Straßenjungen; sondern ein Opernchor, Statisten und brave Knaben, die an ihren Musiklehrer denken. Es ist alles so, wie man befürchtet hatte, als man der gastfreundlichen Einladung zu den Musikfestspielen von Bratislava, dem ehemaligen Preßburg, Folge leistete. Ist wirklich alles so? Nein, es ist ganz anders. Denn dieser bemühte, mühsame Opernbetrieb, überholten Vorstellungen von Moderne nacheifernd, unbeachtet vom internationalen, in den Spitzenpositionen Ost und West umgreifenden Management, um so hoffnungsloser zur „Provinz“ degradiert, je größere Anstrengungen unternommen werden, ihr zu entkommen, dieser Opernbetrieb ist mit „Carmen“, „Rigoletto“ und dem „Troubadour“ nur Folie für die jungen Sänger des „Interpodiums“, der Nachwuchsparade aus den sozialistischen Ländern. Und dieses „Interpodium“ ist eine schlechthin großartige Sache. Eine vergleichbare Präsentation von jungen Persönlichkeiten — Sängern, In- strumentalisten und Dirigenten — erlebte ich in den letzten Jahren an keinem anderen-Ort.

Das heutige Bratislava ist eine junge Stadt. Der Altersdurchschnitt der rund 320.000 Einwohner liegt unter dreißig Jahren. Er wird mitbestimmt durch die 25.000 Studenten an den fünf Hochschulen. Sie sind auch das interessanteste Publikum für das Musikfestival, aber wie überall klaffen Zielvorstellung und Praxis auseinander. „Patronate“ über einzelne Konzerte sorgen für Einführungen und Gesprächs-Kontakte mit den Künstlern. Das Festival — mit zwei bis vier Terminen pro Tag in Bratislava — zieht über Land: im Umkreis von 50 km werden Konzerte gegeben, die überlasteten Organisatoren, gleichwohl um den Gast besorgt wie kaum anderswo auf der internationalen Festspielszene, registrieren 105 Veranstaltungen innerhalb von 15 Tagen. Außerdem werden musikwissenschaftliche und Interpretations- Probleme erörtert.

Man spielt auf der Doppeltasten- Klviatur von problembedingter Abgrenzung einerseits und kulturell erstrebter Öffnung nach Westen anderseits wahrhaft virtuos. Es gibt eine Fülle von Fragen, die man aus westlichem Blickwinkel nur zur Kenntnis nehmen kann. Sie betreffen beispielsweise die Kontakte der Konzertagenturen und der Rundfunkanstalten sozialistischer Länder. Daß aber auf der gleichen organisatorischen Basis auch Ost-West-Kon-

takte von beispielhafter Sachlichkeit möglich sind, bewies die von der UNESCO veranstaltete Internationale Tribüne junger Interpreten. Diese Einrichtung hat einige organisatorische Kinderkrankheiten hinter sich, ist aber mit dem jährlichen Wechsel von Band-Vorführungen und persönlicher Mitwirkung auf dem besten Wege, zur gut funktionierenden Drehscheibe ost-westlicher Nachwuchsförderung zu werden.

Kehren wir zur „Carmen“, zum „Interpodium“ zurück. Die Titelheldin war ein junges, schlankes, ja zartes Mädchen mit sinnlicher Ausstrahlung; nichts Laszives war an ihr. Man konnte sich in sie verlieben, nicht unbedingt durch sie zum Mörder werden. Die Polin Stefania Krzywin- ska-Toczyska sang in ihrer Landessprache; der Jugoslawe Miorąir Nico- lic — Leutnant Zuriiga — hatte seine Partie in der Originalsprache studiert, also französisch. Andrej Kucharsky, Gast zwar, doch nicht Teilnehmer am „Interpodium“, bedrängte Carmen als Sergeant Jose auf deutsch — er ist gebürtiger Slowake, lebt aber seit vielen Jahren in der Bundesrepublik. Nimmt man das Slowakische von Chor und übrigem Ensemble hinzu, war’s eine vierspra- chige „Carmen“ — immerhin eine Rarität, auf seltsame Weise dem Traumhaft-Absurden der Opernform gerecht werdend. Carmen verfügte über einen flexiblen, sorgsam geführten Mezzosopran, der jugoslawische Zuniga über einen runden, lyrisch-weichen, besonders leicht ansprechenden Baß. Als Herzog in „Rigoletto“ stellte sich der Slowake Peter Dvorsky vor, 23 Jahre jung, mit herrlichem, unverbrauchtem Material und jugendhaftem Charme. Opernfiguren einmal in glaubhaftem Alter zu sehen, lohnte allein schon den Besuch dieser etwas merkwürdigen Vorstellungen.

Für die Dirigenten und Instrumen- talisten mögen drei Namen stehen: Der jungę Bulgare Emil Cakarov ist Preisträger in Karajan-Wettbewerben und lebt zur Zeit in West-Berlin; ein Fortissimo-Dirigent, der aber erstaunlich gelassen disponiert und deutlich macht, wie genau er vorher gearbeitet hat. Rajmund Kakoni aus Bratislava spielt Orgel auf dem Akkordeon; die Töne sind knapp gesetzt, ohne „Drücker“, alles Peinliche, Volkstümelnde ist dem Instrument genommen. Die Russin Svetlana Na- vasardjan ist eine Entdeckung von Weltrang: im Solopart des Ersten Klavierkonzerts imn Schostakowitsch entfaltete sie Kraft und Zartheit, Witz und Feuer, technische Brillanz und bestechende Klarheit in der Phrasierung.

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