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Revueheld Villon

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Dürrenmatt erklärte, die gefundenen Stoffe seien durch die erfundenen abgelöst worden. Helmut Schwarz, Leiter des Reinhardt-Seminars, verbindet; in seiner unhistorischen Revue, „Fran-cois, der Henker wartet“, die im Volkstheater uraufgeführt würde, beides. Eine Schauspielertruppe stellt eine historische Figur noch während sie leht dar, Unhistorisches, Erfundenes ergibt sich.

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Dürrenmatt erklärte, die gefundenen Stoffe seien durch die erfundenen abgelöst worden. Helmut Schwarz, Leiter des Reinhardt-Seminars, verbindet; in seiner unhistorischen Revue, „Fran-cois, der Henker wartet“, die im Volkstheater uraufgeführt würde, beides. Eine Schauspielertruppe stellt eine historische Figur noch während sie leht dar, Unhistorisches, Erfundenes ergibt sich.

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Der Poet, Mörder und Zuhälter Villon wird anno 1463 von der Polizei gesucht, da er den Priester Ser-moise erstochen hat und der Bandenorganisation der Coquillards angehört. Die Schauspieler, von der Polizei bedrängt, improvisieren die Geschichte Villons, um sie „unter die Leute zu bringen“ — der Gesuchte soll so leichter dingfest gemacht werden —, wobei ein der Truppe Unbekannter, Leneuf, den Villon spielt, da die anderen abgelehnt haben, diese Rolle zu übernehmen. Ist es Villon selbst?

In sieben Episoden — im Volkstheater sechs — ersteht das Leben dieses unbändigen Menschen, wie es sich in der Phantasie der Darsteller abspielt. Der unnötig reichlich ausgespielte Sex bei fiktiven Klosterleuten und fiktivem Bischof überbordet da. Schwarz hat sich vielleicht allzusehr in die erotische Renaissanceliteratur eingelesen, jedenfalls verändert er die geschichtlichen Fakten, baut sie aus. Aber nun fehlen Nachrichten über das Ende dieses genialen Vaganten. Die künstlich aufgesetzt wirkende, abwegig clowneske Schlußwendung des Manuskripts mit der plötzlichen Geschlechtsumwandlung Villons in eine Frau, nun Braut eines Soldaten, wird in der Aufführung klugerweise nicht gespielt. Diesfalls ist Leneuf tatsächlich Villon, er entkommt in Frauenkleidern.

Was wollte Schwarz mit seinem songdurchsetzten Stationenstück? Merkbar einer Zeit, die an Häufung der Gewalttaten der unseren ähnelt, komödienhafte Züge abgewinnen. Die bittere Groteske läge näher. Die Genialität Villons, die schmerzhafte Spannung zwischen den äußersten Polen des Menschseins, geht leider verloren, bei Dimensionsverlust wird dieser Poet und Verbrecher zum revuetauglichen Gauner und Weiberhelden reduziert. Eugen Stark stellt ihn unter der Regie von Edwin Zbo-nek beweglich dar, Dimension wäre ohnedies vorläufig seine Sache nicht. Mit Ausnahme von Peter Hey als Schauspielerprinzipal und ein, zwei anderen verkörpern die Mitwirkenden je mehrere Gestalten, vor allem Ernst Meister und Uwe Falkenbach, Renate Bernhard und Elisabeth Da-nihelka. Einschmeichelnd Zärtliches, Witziges und Zündendes ä la Kurt Weill bietet die Musik des branchengewandten Herbert Prikopa. Das Bühnenbild von Roswitha Meisel

stellt ein großes Spielgerüst dar. Das Publikum zeigte sich amüsiert.

Leukämie als Vorwurf eines Stücks jenes Dramatikers, den man als den bestangezogenen Englands, als „golden boy“ bezeichnete? Tatsächlich beinhaltet der abendfüllende Zweiakter „Lob der Liebe“ von Terence Rattigan, der derzeit im Theater in der Josefstadt aufgeführt wird, diesen Vorwurf. Also die Problematik um die anscheinend ge-

sunde Frau, die nur noch wenige Monate zu leben hat und es sich nicht anmerken läßt. Wie auch ihr Gatte hinter Kratzbürstigkeit verbirgt, daß er dies weiß, um es ihr — vermeintlich — nicht schwer zu machen. Nun aber: Diese Frau als Flüchtling aus dem Osten im fremden England, diese Frau zwischen dem Gatten, einem Kritiker, und dem Freund, einem Erfolgsschriftsteller, der groß angelegte Krach des jungen Sohns mit dem Vater. Das ist ein reichlich unhomogenes Gemisch des bereits gealterten „golden boy“. Zusammengehalten wird das Disparate durch das sozusagen hoch-herrschaftliche Bibliothekszimmer des Bühnenbildners Gottfried Neumann-Spallart und die „josefsstädte-rischen“ Gesellschaftsallüren der Darsteller. Vor allem Marion Degler, aber auch Leopold Rudolf als Gatte, Rudolf Heintel als Freund, Alexander Wächter als Sohn spielen das Vierpersonenstück unter der Regie von Walter Davy exzellent.

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