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Rosen für den Lehrer

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Unser Schicksal, so dachte der lange Unolt später, ist wie eine Straße voller Glatteis: lange gehst du ahnungslos darauf herum, sicher, - und dann schmeißt es dich plötzlich auf den Rücken. Aber das Wichtige hast du erst gemerkt, als du dalagst. Oder du bist um unaufällige Ecken gebogen, und auch da hast du alles erst gemerkt, wenn du herum warst.

Der kleine Unolt beschäftigte sich mit einer einzigen Sache: er quälte das „Lamm“. Wie dieses Lamm wirklich hieß, wußte kaum einer von uns, es interessierte auch niemanden, und wenn der richtige Name dieses Lehrers im Jahrbuch der Schule erschien, mußten wir erst nachdenken, bis wir draufkamen, daß das Lamm gemeint war. Auch den Ursprung des Namens kannten wir nicht, eben aus dem Grund, weil er so gut saß. Nur schlecht passende Röcke wirken auffallend.

Das Lamm eignete sich für viele Unternehmungen: zum Beispiel konnte man den großen Tafelzirkel mit der Spitze so in den oberen Türrahmen bohren, daß sein zweiter Schenkel die sich öffnende Tür eben noch berührte. Dann fiel er herab, ebenso wie das, was man noch an ihn gehängt hatte, Kreiden, Dreiecke, Schwamm und dergleichen - und alles zusammen landete auf dem Kopf dessen, der durch die Türe kam. Und das war, vorausberechnet, das Lamm, welches pünktlich eintrat.

Sein Gesicht mußte man sehen, wenn die Geräte ihn gestreift hatten und zu seinen Füßen lagen: die Stirn gerunzelt, die blauen Augen kugelig, das rotblonde und angegraute Haar wirr, die Wangen zugleich aufgebläht und faltig, ein gelber Schimmer von Gram um die leicht geöffneten Lippen - erstaunt und ärgerlich zugleich, jung und uralt. Wie ein neugeborenes Kind sah er aus, und dabei schön in seiner Unschuld.

Wir wußten von ihm nichts, als daß er keine Famüie hatte, sehr allein war, daß er bloß in einem großen Zimmer wohnte, in dem alle Wände vom Boden bis zur Decke mit Bü-•. ehern, bedeckt waren,-,und daß er auf dem Fensterbrett das Bild einer Frau stehen hatte - einer verstorbenen, verlorenen, noch nicht erreichten: wir wußten das nicht. Wir kannten das große Zimmer nur dadurch, daß wir ihn manchmal nachmittags um irgendetwas gänzlich Nebensächliches fragen gingen, wenn wir nämlich dreckige Schuhe hatten, die wir mit großer Gründlichkeit auf seinen Teppichen abstreiften. Der kleine Unolt hatte dann immer Sohlen mit starkem Profil und schleppte ihm ganze Knollen Unrat ins Zimmer.

Wie er stets richtig vermutete - nie hatte er in der Klasse etwas zu lachen. Unolt war unerschöpflich. Was das Lamm berührte, war unbrauchbar: die Tinte geronnen, die Kreide wie

Stein, die Feder kreuzte die Beine. Das Wachstuch auf dem Tisch klebte, die Stufen zum Katheder waren fett und luden zum Ausgleiten ein. Das Fenster daneben entließ stets einen feinen haarscharfen Luftzug ins Zimmer. Der Weg zwischen den Bänken war durch Erbsen gefährdet; wo immer das Lamm sich anlehnte, wurde sein Anzug beschmutzt.

Bücher, die das Lamm dem Unolt wegnehmen wollte, erwiesen sich als an die Bank genagelt oder schwirrten an Gummibändern zur Decke, Tintenflecke entpuppten sich als Blech-plättchen, gelegentlich begann es über Unolts letzter Bank chemisch zu schneien und manchmal läutete auch eine Weckeruhr mit demselben Ton wie die Schulglocke, so daß das Lamm die Stunde abbrach und dann - erstarrt von dem Geheul, das sich hinter ihm in der Klasse erhob - unzeitig und einsam auf dem Gang stand, im Unklaren, ob er es nun beim Schluß der Stunde bewenden lassen oder an den Ort seiner Qual zurückkehren sollte.

Und sie waren beide gescheit, das Lamm wie der Unolt. Wir begriffen erst viel später, daß es sich um eine ernste Sache handelte. Der Unolt hatte sich einfach vorgenommen, dieses Lamm herauszufordern, ihn zur Wut, zu einer Hemmungslosigkeit, zu irgendeiner blinden Handlung herauszufordern. Das war der einzige Grund. Und das Lamm war entschlossen, den Unolt durch Gleichgültigkeit zu überwinden. Es war ein harter Kampf, der mit Grundsätzen und stoischer Ruhe ausge-fochten wurde.

Zu Anfang Juni änderte Unolt wie ein gewandter Fechter seine Technik. Er blieb ein paar Stunden lang unauffällig, artig und sanft - ein Verhalten, das den Lamm beunruhigte. Ohne jeden Anlaß fuhr der Lehrer alle paar Minuten herum und starrte Unolt an, von dem nicht das geringste erfolgt war, der nur dasaß und das Lamm freundlich anlächelte, sooft das erwartungsvolle, erschrockene Neugeborenengesicht sich gehetzt ihm zuwandte. Als diese bösartige Sittsamkeit aber ihre Wirkung zu verlieren begann, erfand Unolt etwas weiteres: er ging zu aktiven Freundlichkeiten über.

Er hatte einer Tante zum Geburtstag einen großen Strauß Rosen zu bringen. Aber auf dem Weg zur Tante fiel ihm ein, daß an diesem Tag auch das Lamm Geburtstag hatte. Eine prickelnde Freude - er wußte nicht, was sie zu bedeuten hatte - kroch ihm den Rücken herab, Unolt machte kehrt und wanderte zu Lamm, löste vor der Tür das Seidenpapier, nahm den Strauß an die Brust und stand, als Lamm kam, wie ein Rosenstrauch auf zwei Beinen, die Lamm nicht sofort als die des Unolt erkannte, denn die Hose war so sauber wie die Schuhe. Lamm brachte nichts hervor als ein erschrockenes „Nein!“ zögerte unentschlossen, ergriff die Schulter des Besuchers, zog ihn ins Vorzimmer - und da erst erkannte er ihn und rief ein sehr langgezogenes „Du-“.

Jawohl, sagte Unolt kurz, verneigte sich, legte die Rosen auf den Spiegeltisch und ging ohne Glückwunsch oder Erklärung. Aber er fühlte, mit welch starrem Blick ihm das Lamm nachsah, und das tat, wieder vom Rücken ausgehend, seinem ganzen Körper unsäglich wohl. An der Ecke der Straße traf Unolt seinen Banknachbar Timmel, der seinerseits für das Lamm eine Geburtstagsüberraschung vorgesehen hatte: er wollte dem Lamm ein Fenster einwerfen oder das Schlüsselloch zementieren. Aber als Unolt auf der Straße anhielt und zum Fenster des Lehrers hinaufblickte, entdeckte er, daß Lamm den Rosenstrauß neben das Bild der Frau gestellt hatte und mit einem etwas abwesenden Blick lächelte - zu einer Verstorbenen, Verlorenen, Künftigen hin - Unolt wußte es nicht, aber er sah die Bewegung des Mannes, der dort oben eine Andachtsstunde hielt.

Unolt befahl Timmel zu warten und kehrte um. Er rannte die Treppe hinauf und läutete atemlos nochmals. Er hatte jetzt die Ruhe verloren, die ihn während der langen Zeit seiner Quälereien nie verlassen hatte - er wollte jetzt offen und von ganzem Herzen gemein werden mit diesem Menschen, der alles hinnahm wie ein freundliches Geschenk.

Das geht nicht! keuchte er, als ihm geöffnet worden war. Das geht nicht, daß Sie sich freuen. Ich habe Ihnen die Blumen nicht zu Ihrem Vergnügen gebracht!

. Lamm sah ihn ganz ruhig an und Unolt wußte nicht, wie er sich verständlich machen sollte.

Es kommt Ihnen nicht zu, sich zu freuen! stieß er endlich hervor. Das war nicht gemeint- ich wollte nichts als Sie ärgern oder erschrecken!

Was du wolltest, sagte das Lamm, ist ganz gleich. Ich freue mich. Du verstehst davon noch nichts - aber es geschieht nicht immer, was wir wollen. Du siehst nur, was du siehst -aber das Leben besteht aus mehr. Aus Ja und Nein. Da gibt es Dinge... er stockte und wußte nicht weiter.

Die beiden, der junge Unolt und der alte Lamm, fast gleich groß, blickten einander hoffnungslos verlegen an. Endlich sagte Lamm: Wir wären ohne die Welt nicht - aber auch die Welt ist erst dadurch vorhanden, daß wir sie anschauen - verstehst du mich? Du schaust sie bös an, weil du bös sein willst - aber was draus entsteht, muß darum nicht bös sein ... Ich weiß nicht, es ist nicht mein Fach, ich drücke mich schlecht aus - aber auf jeden Fall, Unolt - ich danke dir. Du hast die ganze Zeit schon ... du hast mir die ganze Zeit geholfen, ich war... es ist besser, einen Feind zu haben, als so einsam zu sein wie ich war ... und ich danke dir -

Unolt hörte sich diese Rede nicht zuende an, es war auch keine Rede, es war ein hilfloses Gestammel, das Unolt nachher nie richtig zusammenbringen konnte. Er fand sich erst wieder auf der Straße, mit rotem Gesicht, ohne deutlichen Begriff von dem, was er erlebt hatte, aber mit dem bestimmten schweren Gefühl von etwas, was auf ihn gefallen war, dem Gewicht eines Felsens, der ein winziges Stück Erfahrung in sich bergen mußte, eine Erzader, die Unolt nicht herausbrechen konnte und die ihn sehr erregte.

Deshalb war er froh, daß Timmel noch immer dastand und ihm zuflüsterte: Auf zur Geburtstagsfeier! Ich hab eine Nadel aus Stahl gefunden, die bricht leicht ab. Eiserne Nadeln sind nichts, die biegen sich - aber die ist gut. Wir drücken auf den Klingelknopf, stecken die Nadel hinein und brechen sie ab - dann kann er lang suchen, wo der Fehler steckt. Inzwischen ist er verrückt geworden von dem blöden Geklingel!

Unolt war froh, daß er für sein stummes Drängen endlich einen Ausdruck oder eine Antwort finden konnte: er fühlte sich sehr erleichtert, als er ausgeholt und dem Timmel ein paar rechte Haken gegen Kinn und Nase geknallt hatte.

Als Timmel sich umblickte nach Rache und Erklärung, war Unolt um die Ecke verschwunden, um eine endgültige Ecke, wie er sich später manchmal ausdrückte.

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