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Schweden für Schweden

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„Der Nobelpreis in Literatur ist ein Rettungsring für einen Meisterschwimmer”, so sagte einmal ein berühmter Kritiker, „für einen Meisterschwimmer, der längst das rettende Ufer erreicht hat!” — Wenn man nur die pekuniäre Wirkung einer Preiszuer- kennung im Auge hat, dann trifft diese ironische Charakterisierung der Entscheidungen der schwedischen Nobel-Akademie auch für dieses Jahr zu, wenn man jedoch mit dem Erreichen des rettenden Ufers eine internationale Bedeutung und eine bereits errungene Weltgeltung meint, dann fällt die Wahl des Jahres 1974 aus dem Rahmen des bisher Gewohnten, denn von keinem der zwei diesmal auserkorenen schwedischen Dichter kann man sagen, daß ihr bisheriges Wirken auf internationalem Feld sichtbare oder fühlbare Spuren hinterlassen hat. Die Wahl dieses Jahres ist, so schrieb der wohl bekannteste Publizist Schwedens in der größten Tageszeitung des Landes, „ein Rückfall in Nationalismus und Provinzialismus”.

Harry Mar tins son (geh. 1904) und Eyvind Johnson (geb. 1900), gehörten beide jener Dichtergeneration an, deren Jugendjahre vom heute unvorstellbaren sozialen Elend der zwanziger Jahre geprägt waren. Eyvind Johnson lebte lange Zeit in Berlin und vor allem in Paris, beherrschte frühzeitig drei Sprachen und war wohl jener aus der rasch an Ansehen gewinnenden Gruppe von Arbeiterschriftstellern, der über die umfassendsten internationalen Erfahrungen verfügte und nach seiner Rückkehr nach Schweden durch die Anwendung einer modernen, damals als kühn angesehenen Prosa überraschte. Nach einer langen Reihe von Novellensammlungen und Romanen gelang ihm mit seiner vierteiligen Romanserie um Olof, die von 1934 bis 1937 erschien, der eigentliche Durchbruch. Der „Roman um Olof” wird auch von Kritikern, die Johnsons späteren Werken kühl gegenüberstehen, als ein bedeutendes Werk der neueren Literatur bezeichnet. Der Romanteil „Hier hast Du dein Leben”, wurde übrigens vor wenigen Jahren verfilmt und erweckte großes Interesse. Ebenso wie dieser Roman, handeln so gut wie alle Werke dieses ehemaligen

Flößers und Sägewerksarbeiters aus dem hohen Norden Schwedens um den Aufbruch aus tiefer Misere über die Revolution der Jugend zur Befreiung des Individuums. Die Jahre in Deutschland und Frankreich und später auch ein langjähriger Aufenthalt in der Schweiz scheinen dazu beigetragen zu haben, daß Johnson den Problemstellungen der radikaleren Teile der Arbeiterbewegung von heute eigentümlich kühl und verständnislos gegenübersteht. In seinen Romanen über Krilon bringt er für einen ehemaligen Arbeiter, der Kapitalist geworden ist, viel Verständnis auf: Der Revolutionär von damals ist — nicht nur in seinen Romanen — zum respektablen Repräsentanten einer wohl etablierten Gesellschaft geworden!

Mit dem in ärmsten Verhältnissen auf gewachsenen Harry M artins s on erhielt Schweden seinen ersten bedeutenden Schilderer des Seemannslebens auf den Totenschiffen der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Mittelamerika und Brasilien, Kalifornien und Indien erlebt er mit den wachen Augen des mittellosen Seefahrers, den die bittere Not aus der Heimat vertrieben hat. Schon die ersten Bücher, „Reisen ohne Ziel” und „Kap Farväl”, begeisterten das schwedische Publikum. Der deutsche Leser denkt vor diesen Büchern an die erregenden Erzählungen B. Travens. Doch Martinsson wurde niemals ein ewiger Rebell wie dieser von vielen Fragezeichen umgebene Deutsch-Amerikaner, sondern eigentümlicherweise ein feinsinniger Schilderer der sublimsten Naturerlebnisse und fremder geheimnisvoller Religionen. Die Erzählung, die als seine Biographie angesehen werden kann, trägt bezeichnenderweise den Titel „Die Nesseln blühen”. Im Landstreicherepos „Der Weg nach Klockenreich” läßt er seinen früheren Tabakarbeiter Bolle, der lange Zeit kreuz und quer durch das Land zieht, nach einer Fahrt in Charous Kahn im Geiste Buddhas wieder ins Leben treten, in einem Reich des Glücks, das er irgendwohin nach Brasilien verlegt hat. Am bekanntesten außerhalb Schwedens dürfte wohl Martinssons Raumepos „Aniara” sein, das von Karl-Birger Blomdahl als Opernstoff verwendet wurde. Es ist die Schilderung des letzten Kapitels in der Geschichte der Menschheit, den ein Rest des Menschengeschlechtes auf den Flug in die Unendlichkeit, an Bord des steuerlos dahintreibenden Raumschiffes Aniara erlebt. Es ist dies zugleich das einzige Werk der beiden Dichter, dem man möglicherweise jene universelle und dem Geiste Alfred Nobels entsprechende Bedeutung zu sprechen kann, die eine so hohe Ehrung wie die Verleihung dieses berühmtesten Literaturpreises der Welt rechtfertigen. Doch auch von Martinsson gilt, daß sein Werk eigentümlicherweise weit entfernt von den brennenden Problemen dieser Zeit angesiedelt erscheint, als ob es auf einer weltfernen Insel entstanden wäre. Sogar über die Düsternis der Elendsjahre breitet es einen verklärenden Schimmer.

Daß beide Dichter, Eyvind Johnson und Harry Martinsson, jener Königlich Schwedischen Akademie angehören, die über die Verteilung des Nobelpreises zu entscheiden hat, gibt dieser Wahl zweifellos eine peinliche Note. Es ist zudem nicht das erstemal, daß Harry Martinsson einen der großen Literaturpreise von einem Forum erhielt, dem er selbst angehört. In dem früheren Fall hatte er sich diesen Preis sogar zweimal hintereinander überreichen lassen…Zu den Eigenschaften eines Nobelpreisträgers sollte auch eine gute Portion Taktgefühl und Zurückhaltung gehören, zumal ein Andrė Mal- raux, ein Graham Greene und ein Thornton Wilder diese Auszeichnung noch nicht erhalten haben. Von den seit einem halben Jahrhundert übergangenen österreichischen Dichtern ganz zu schweigen.

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