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Digital In Arbeit

Selten

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Wir sehen uns so selten. Zu selten. Das ist nicht gut. Das ist nicht „in der Ordnung".

Du bist alt, meine Freundin. Du nimmst es mir nicht übel, daß ich von Dir als einer alten Frau spreche, Du benennst Dich zuweilen selbst so. Ich hätte auch „alte Dame“ sagen können, aber für diese Klassifizierung kennen wir uns zu gut. Ich höre Dich bereits lachen und sehe Dich vor mir, wie Du gleichzeitig die Stirn runzelst. Das läßt auf die Entstehung eines kleinen Apergus von Deiner Seite schließen, auf welches ich mit Vorfreude warte.

Zu selten halte ich Deine Hand in der meinen und sage Dir, was für herrlich warme Hände Du hast, und viel zu selten hältst Du meine Hand in Deiner und sagst: warum so kalte Hände, ist Dir was?

Zu selten erzählen wir einander die Tagesneuigkeiten, die uns die Medien zwischen unsere Gedanken und Sehnsüchte, unsere Zweifel und unsere Konzentration auf die Arbeit hineintreiben, und viel zu oft gehe ich Deiner trok- kenen Kommentare verlustig, weil ich zu selten dabei bin, wenn Du nach der Lektüre der Zeitung erst einmal ausatmest.

Manchmal weiß ich, daß es Dir nicht gutgeht, nicht gutgehen kann, weil Föhn herrscht oder eine seelische A bart von ihm, und vermeide es trotzdem, den Hörer abzunehmen und mich nach Deinem Befinden zu erkundigen, vielleicht, weil ich Dir nichts Besseres zu berichten hätte als die Tatsache, daß ein ziemlich gleichartiger Föhn auch bei mir die Macht übernommen hat und daß wir ihm das besser wortlos gestatten sollten.

Dein Vater, mein Großvater, ging an solchen Tagen wohl schweigend in unserem Garten herum, hob kleine Aste vom Boden auf und legte sie schweigend auf einen Haufen. Dann hob er sein Gesicht der Nachmittagssonne entgegen und strich seinen Altwiener Schnurrbart. Längere Zeit konnte er so stehen und ist dann mit seinen vorsichtig gesetzten Altmännerschritten weiterhin schweigend zu uns zurück an den Jausentisch gekommen. Er war der erste alte Mann in meinem Leben, und jetzt hat Dein Haar fast die Farbe des seinen. Manchmal gebrauchst Du eine Redewendung, die nur von ihm stammen kann, und Dein Enkel, mein Sohn, tanzt aus der Küche vor Lachen.

Zu selten frage ich Dich, ob Deine Birke auch schon blüht, und ob der Tag auch für Dich zu wenig Stunden hat, besonders zu wenige solche, in denen einem das Atmen leichtfällt.

Nicht selten liest Du diese Zeitung. Wenn Du es diesmal tust, fühl meine Hand in der Deinen.

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