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Verzeih mir, daß ich noch lebe!

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Verzeih mir, daß ich noch lebe und deine Tage mit meiner Anwesenheit beschwere. Als du klein warst, habe ich geglaubt, nie könntest du dich deinem Vater entfremden. Damals brauchtest du mich. Heute hast du deine eigene Welt. Damals sorgte ich für dich. Heute mußt du mich versorgen.

Du selbst weißt nicht, was es heißt, alt zu sein. Man fühlt, wie der Kreislauf des Lebens sich schließen will. Erde und Himmel sind gleichermaßen beängstigend nah, und wenn ich in meinen Träumen nach vertrauten Dingen greife, fasse ich ins Leere.

Mir bleibt nicht mehr viel zu tun. Was ich früher schaffte, zählt nicht mehr. Wenn ich versuche, dir zu helfen, so fällt dieses Helfenwollen mir schwer — aber ich möchte dir beweisen, daß ich noch zu irgend etwas nützlich bin.

Laß mich meine Selbstgespräche führen und reiße mich nicht aus der Traumwelt, in der ich lebe. Das Zurückfinden in die Nüchternheit des Alltags erfolgt immer wieder viel zu schnell.

Laß mich durch die Zimmer schlurfen. Bedenke, wie müde meine Füße geworden sind, die so manchen Gang für dich taten.

Laß meine zitternden Hände untätig ruhen, die dir in deiner Jugend kraftvoll das schützende Dach bauten. Mache mir hin und wieder eine kleine Freude. Vergiß nicht, ich klammere mich an die sonnigen Stunden, die mir geschenkt werden. Eines Tages werde ich nicht mehr bei dir sein. Du wirst vielleicht, trotz deiner Tränen, denken: „Es war besser für ihn. Er hat ein schönes Alter erreicht. Jetzt hat er seinen Frieden.“

Du brauchst dann nicht mehr hinter mir zu stehen und achtzugeben, ob mir nichts tolpatschig aus den Fingern fällt, du brauchst nicht mehr unwillig zu sein, daß ich im Unverstand des Alters weniger sorgfältig mit der Kleidung umgehe.

Aber jetzt ertrage mich. Erhelle mir die letzten Tage ntit deinem Lächeln.

Auch du wirst vielleicht einmal so alt sein wie ich. Und dann werde ich dir einfallen mit all meiner greisenhaften Angst, die gemildert werden kann durch einen Trost oder Zuspruch von dir. Du wirst dich nach einem Menschen sehnen, der dir ein wenig Liebe entgegenbringt.

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