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Besuch

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Ich komme natürlich morgen wieder. Oder übermorgen. Ich wollte dir so viel erzählen. Nein, ich wollte dir so viel sagen. Früher bist du immer selig eingeschlafen, während ich dir von den großen, wichtigen Ereignissen in meinem Leben berichtete. Ich saß an deinem Bettrand und sah, wie dir die Augen langsam zufielen. Dein Nachmittagsschlaf war gerettet.

Ich war zwölf damals. Oder dreizehn. Und eher stolz darauf, dir einen so tiefen Schlaf verschafft zu haben. Heute bist du fast neunzig, und so viele Sommerabende, an denen ich allein neben dir sitze, wird es in unserem gemeinsamen Leben nicht mehr geben.

Ich fahre in ein paar Tagen in die Ferien, und du auch. Das heute ist so eine Art Abschiedsbesuch. In den letzten Jahren haben wir es immer so gehalten, daß ich mich verabschieden kam, bevor wir die Stadt — mit getrennten Zielen — verließen.

Seit du alt wirst, ich meine ganz alt, fahre ich so ungern weg, weiter weg. Besonders im Sommer.

Du und ich, wir teilen uns das Jahr noch immer nach der Theatersaison ein. Seit vielen Jahren schon. Und Sommer war für uns Kinder lange Jahre die Zeit mit dir. Unsere Ferien fielen mit deinen Theaterferien zusammen.

Natürlich nennen wir das heute nicht Abschiedsbesuch. Nur Besuch. Ich weiß, du sitzt noch gerne unter dem Fliederstrauch im Hof an warmen Abenden wie diesem. Der Strauch ist längst ein Baum. Wenn es kühler wird, gehen wir dann hinein.

Es ist heute noch nicht kühl. Bitte laß es dir noch nicht kühl sein, laß uns hier unter dem Kinderflieder sitzen bleiben, ich will noch nicht ins Haus gehen mit dir.

Soll ich dir eine Weste holen? Du wirst sie nicht finden. Aber ja.

Ich wollte dir so viel erzählen. Ich dir auch. Da war etwas ganz Wichtiges, es fällt mir nur jetzt nicht ein, ich denke schon die ganze Zeit nach, aber ich weiß, es wird mir heute nicht mehr einfallen.

Wann fährst du? In ein paar Tagen. In ein paar Tagen schon? Zeigen wollte ich dir etwas Merkwürdiges, es wird dir bestimmt gefallen, aber ich habe es vorhin nicht mehr gefunden.

Das war die erste Fledermaus. Was war das? Die erste Fledermaus heute abend. Hatten wir schonimmer Fledermäuse um diese Zeit?

Kannst du noch ein bißchen bleiben? Natürlich. Es ist so schön hier. Nicht wahr?

Vielleicht finde ich jetzt das Merkwürdige, das ich dir zeigen wollte, ich...

Nein, bleib hier bei mir sitzen, Vater.

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