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Begegnet?

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Herr — ich wäre Dir so gerne begegnet. Irgendwie hat sich das nie ergeben. Es lag wohl an mir. Ich hätte es möglich machen müssen. In den Tagen vor Deiner Verhaftung war doch noch viel Volk, um Dich, ich wäre nicht weiter aufgefallen.

Natürlich hättest Du gewußt, daß ich Dir nachschleiche, aber Du hättest die Jünger nicht angewiesen, mich von Dir fernzuhalten, denn ich wäre Dir schon nicht näher gekommen als bis zu der Grenze, jenseits derer sich später ein Evangelist dieser alleinstehenden Frau erinnern hätte können, die dem Meister immer so viele Fragen stellte. Zur Unzeit meistens.

Ich hätte kein Wunder von Dir erbeten und keine Fragen an Dich gestellt, die ein anderer aus dem Haufen um Dich nicht schon früher und besser gestellt hätte.

Recht klug hätte ich es angefangen, Dir nicht wirklich unter die Augen zu geraten. Unter dem Schutz des Zuhörens hätte ich kein Wort an Dich richten, mich nicht hervortun, keine Stellungnahme beziehen müssen. Erst in der Dunkelheit hätte ich mich so nahe wie möglich an das Haus herangeschlichen, in dem Du gerade die Nacht zubrachtest, und hätte heimlich zu erspähen versucht, wie Du ißt und wann Du Dich zur Ruhe legst.

Ich wäre — weit hinter Dir— in Jerusalem eingezogen, eine Staubwolke zwischen mir und Dir auf Deinem Esel.

Von Deiner Verhaftung hätte ich zu spät erfahren, den Pilatus hätte ich nicht genau verstanden, und vor den „Kreuzige ihn“-Schreien hätte ich mir die Ohren zugehalten. Nach der Geißelung hätte ich den falschen Soldaten nach Deinem Befinden gefragt, auf der Via Dolorosa hätte ich mich abdrängen lassen, und auf Golgotha hätte ich mich so gefürchtet, daß ich mitten ins Erdbeben hineingelaufen wäre.

Dein Grab hätte ich sicher gefunden und wäre in seiner Nähe herumgestreunt, aber sie hätten mich sofort verdächtigt, Deinen Leichnam gestohlen zu haben, denn ich hätte nicht an Deine Auferstehung geglaubt. Für mich wäre alles zu Ende gewesen. Betäubt von Hoffnungslosigkeit hätte ich den wildesten Gerüchten geglaubt, nur nicht dem allerwildesten: daß Du wieder da und mitten unter sie getreten seist, daß sie Dir begegnet wären.

Was hätte ich darum gegeben, unter den Begegnem zu sein! Nicht für die Dauer eines Wimpernschlages hätte ich den Saum Deines Mantels mehr aus der Hand gelassen.

Was läßt mich heute so sicher behaupten, Du wärst nicht eine Handbreite von uns abgerückt in all den Jahrhunderten seither und hättest dies auch in Zukunft nicht vor? Bis an das Zeitenende nicht?

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