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Ein Brief ohne Anrede
Heute nacht entschloß ich mich, Dich aufzugeben, weil ich Dich liebe, obgleich ich Dich liebe.
Was mich zu diesem Entschluß gebracht hat, war ein Nichts, eine kleine Bewegung, die Dir wahrscheinlich geläufig ist, die mir aber Deine Seele offenbarte.
Hätten wir gestern abend nicht diese Begegnung gehabt, ich würde weiter an Dich glauben. Ich würde weiter an Deinen Stolz und eine Güte, ich würde weiter glauben, daß Du ein Flerz besitzest. Wären wir gestern auf dem Weg in die Oper nicht dieser alten zerlumpten Bettlerin begegnet, nichts in meinem Leben hätte sich verändert! Ich wäre immer noch mit einer wunderschönen, eleganten Frau verlobt, von deren Liebe ich überzeugt sein mußte. Schön warst Du gestern abend! Die braunen Locken gaben Deinem Gesicht einen wunderbaren Rahmen. Dem weißen Fell Deines Brokatmantels entstieg Dein Köpfchen mit Schwung und Grazie und die Brillantenanhänger Deiner Ohrringe klirrten leise. Auf Deinen hochstöckeligen Schuhen schrittest Du stolz und kühn dahin. Ich ging neben Dir, nicht ganz so stolz und kühn. Ich ging, ein wenig eingeschüchtert durch die amazonenhafte Leichtigkeit, mit der Du dahinschrittest, und es gelang mir kaum, an Deiner Seite zu bleiben.
Da trat uns die Bettlerin in den Weg. Es war eine alte, eine blasse, hinfällige, gebeugte alte Frau. Sie war sehr schlecht und sehr leicht bekleidet. Ich sah das genau. Du hast das alles vielleicht nicht bemerkt, denn Du blicktest vor Dich hin in die Luft. Ich weiß nicht, was Du dort sahst. Du sahst die Bettlerin nicht, aber Du hörtest ihre Stimme, die Dich ansprach. „Erbarmen Sie sich, schöne Dame!“ sagte sie. Sie sprach ein schönes reines Deutsch. Wer weiß, ob sie nicht auch einmal von einem Kavalier begleitet ins Theater gegangen ist, in Seide und Pelze gehüllt wie Du. Ich hatte schon ein Geldstück aus der Manteltasche genommen, um es der Bettlerin zu reichen, da befahlst Ehi: „Gib mir Geld!“ Statt der Bettlerin, gab ich das Geldstück Dir, gehorsam wie immer. Du nahmst die Münze. Anstatt sie aber der Armen zu reichen… Du hättest sie ihr lächelnd geben können, Du hättest ihr mit der Münze auch einen Blick Deiner schönen funkelnden Augen schenken können! Du hättest sie ihr auch in die Hand drücken können. Und sie hätte diesen Druck vielleicht als süßen Trost empfunden. Der leise Druck hätte ihr gesagt: „Ich bedaure dich von ganzem Herzen!“ und er hätte ihr die Bürde des Bettelmüssens vielleicht ein wenig leichter gemacht. Das aber tatest Du nicht. Du nahmst die Münze aus meiner Hand. Anstatt sie aber der Armen zu reichen, warfst Du sie ihr vor die armen, in Lumpen gehüllten Füße. Du scheutest vor einer Berührung mit ihr zurück und das zeigtest Du ihr. Du zeigtest ihr Deine Verachtung und Deinen Ekel, Du behandeltest sie wie ein räudiges Tier. Du gabst ihr, um was sie Dich bat, aber Du nahmst ihr viel mehr, als Du ihr gabst. Du nahmst ihr ihre Menschenwürde, Du beleidigtest, Du erniedrigtest sie.
Die Bewegung, mit der Du der Bettlerin das Geldstück vor die Füße warfst, war furchtbar. Du schienst mir eine der grausamen Königinnen des Altertums und Mittelalters. Du bist Theodora, Fredegondis. Und du bist es gewesen, die Schuld trägt an ihrem elenden Los! Denn durch Menschen, die so sind wie Du, ist das Elend und die Not der Welt geboren worden!
Mit dieser Bewegung hast Du Dich mir aus dem Herzen gerissen. Es blutet, ich bin zu Boden geworfen, ich bin krank. Immerfort sehe ich Dich das Geld der Bettlerin in den Straßenschmutz werfen, die Gabe beschmutzend, bevor Du sie in ihre Hände gelangen läßt. Nie werde ich es vergessen. Und darum verlasse ich Dich.
Kannst Du mich verstehen? … Du bist klug, wenn Du auch kein Herz hast. Deine Klugheit war es, dir mir so lange Herz vorgetäuscht hat… Weil ich ein Herz habe und Du keins, verlasse ich Dich. Du wirst mich vergessen! … Allzu viele lieben Dich, werden Dich lieben!… Vielleicht wird einer darunter sein, der Bettlern seine Gabe vor die Füße wirft… Vor diesem hüte Dich!
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