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Kinder und Narren

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Ort der Handlung: Wien, Straße vor dem Haus, in welchem mein Schwager Goldmann mit Frau Hermine und Sohn Ladi ein Apartment bewohnt.

Ladi, damals 9, kommt aus dem Haus. Er trägt eine Schultasche auf dem Rücken, in der linken Hand einen vollgefüllten Plastiksack, in der rechten seinen Geigenkasten, hat bei 29 Grad Hitze seinen schweren Wintermantel an, den Sommermantel über die Schulter geschlagen, zwei Mützen auf dem Kopf und - was das Eigenartigste ist - er ist barfuß.

Während er die Straße hinuntergeht, denkt er wütend bei sich: „Noch haben

sie keine Ahnung, aber heute abend, wenn sie mein Verschwinden bemerken, werden sie weinen. Weinen? Heulen werden sie und Vorwürfe werden sie sich machen. Geschieht ihnen schon recht, sie sollen nur unglücklich sein. Warum haben sie mich so schlecht behandelt? Warum hat mir Papa heute wieder eine Ohrfeige gegeben? Nur weil ich es gut mit ihm gemeint habe. Weil ich mit dem Schulzeugnis nach Hause gekommen bin und gesagt habe:,Bleib sitzen, Papa, ich bin es auch geblieben. Darf man deshalb ein Kind schlagen? In einer antiautoritären Zeit? Nein.

.Diese Woche habe ich dich schon zum sechsten Mal bestraft! hat er gebrüllt. ,Was hast du dazu zu sagen? Was hatte ich schon zu sagen? ,Ich bin froh“ habe ich gesagt, ,daß heute schon Samstag ist. Klatsch - hatte ich wieder eine. Und meine Mama? .Geh’, hat sie gesagt, ,ich will dich nicht mehr sehen! Nur weil ich mit der Hand in das Marmeladenglas gegriffen habe, und weil der Bubi Wimmer gesagt hat, seine Großmutter hat einen Lockenkopf, und ich habe gesagt, meine hat einen Schnurrbart. Ist das ein Grund, ein Kind zu verstoßen? Das ist kein Grund.

Und der Herr Lehrer? Hatte er ein Recht, mich anzufauchen? Nein. Soll er nicht so dumme Fragen stellen. .War

um“ hat er gefragt, ,hat Kain den Abel erschlagen? Drauf habe ich gesagt: .Weil er zu viele Fernsehkrimis gesehen hat. Die andern haben gelacht, er hat mir einen drohenden Blick zugeworfen und hat gesagt: ,Ich warne dich! Wenn heute noch das Geringste passiert, wird es sich auf dein Zeugnis auswirken!

Und es ist passiert. In der Geschichtsstunde. In der Geschichtsstunde wollte er wissen, wann man sagen kann, daß ein König gut ist, und ich habe gesagt: .Wenn man auch die Dame und das As dazu hat. Durfte er mich deshalb in Geschichte durchfallen lassen? Er durfte nicht. Aber auch er wird es bereuen. Das freut mich am meisten. Auch ihm wird sich das Herz zusammenkrampfen, o oft er den leeren Platz in meiner Bank sieht, und er wird sich sagen: ,Ich bin mitschuldig, daß sich der arme Ladi etwas angetan hat!

Und Papa und Mama werden sich dasselbe sagen. Und Onkel Robinson und Tante Mela auch, und Onkel Wronsky und Tante Vera auch, und Onkel Hugo und Tante Cissy auch. Die beiden letzteren besonders. Warum erziehen sie immer an mir herum?

Neulich habe ich bei ihnen gegessen, und ich bin ein Schnellesser. .Noch so ein Bissen, hat Onkel Hugo gesagt, ,und du mußt den Tisch verlassen! .Noch so ein Bissen, habe ich geantwortet, ,und ich bin fertig. Drauf mußte ich wieder hören, daß ich ein Lausbub bin und daß ich nie etwas erreichen werde. Aber sie sollen sich täuschen. Ich werde es schon schaffen. Ich habe schon meine Zukunftspläne.“

„He“, sagte im selben Augenblick eine Stimme. Ein Polizist stand vor ihm. „Ich beobachte dich schon eine ganze Weile“, meinte er. „Wo willst du denn hin?“

„Ich gehe durch“, antwortete Ladi. „Meine Mutter hat gesagt, daß sie mich nicht mehr sehen will.“

„Aha“, lächelte der Polizist. „Dann erkläre mir aber eines: Du hast zwei Mäntel, zwei Kappen, einen PlaStik- sack, einen Geigenkasten - warum hast du keine Schuhe an?“

„Weil man“, erwiderte Ladi, „als Bettler eher etwas bekommt, wenn man bloßfüßig ist.“

Kinder und Narren sagen die Wahrheit. Deshalb sperrt man die Narren ein, und den Kindern verbietet man zu reden.

Aus: STRICHWEISE SONNE. Neue Satiren. Amalthea Verlag, Wien 1981.

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