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So war es — war es so?

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Warum sind Dokumentarspiele zu einer österreichischen Spezialität geworden? Wahrscheinlich

deshalb, weil sie, um überhaupt zustande zu kommen, des Impro-visatörischen, Ungenauen und Ungefähren in einem hohen Maße bedürfen. Wer könnte mit Hilfe von Genauigkeit die chaotische Fülle des Lebens bändigen und gestalten? Das Annähernde, aber Typische ist wahrer als das unüberschaubare Genaue.

Zwei solcher österreichischer Spezialitäten serviert nun der ORF innerhalb weniger Tage. Am 30. November Georg Stefan Trollers Dokumentarspiel „Ein junger Mann aus dem Innviertel (Adolf Hitler)“ und am 5. Dezember „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“, ein Dokumentarspiel über Theodor Herzl von Hellmut An-dics. Beide Spiele wollen erzählen, wie es war. War es so?

Ohne Zweifel gelungen (und für die spezifisch österreichische Begabung auch dies wieder bezeichnend) ist in beiden Fällen das Atmosphärische. Bei Herzl die Welt des liberalen Wiener Großbürgertums, verkörpert nicht zuletzt im Herrenhausmitglied Benedikt, und der skeptischen jüdischen Literaten, verkörpert auch im funkelnden Geist eines Karl Kraus — bei Hitler der streng abgekapselte, monoman auf sich selbst beschränkte (mithin also tatsächlich bornierte) Bereich der „völkischen“ Mittelschicht, die in Österreich damals vom Provinzindustriellen bis zum Vorarbeiter, vom Kleinkaufmann bis zum Fürsorgerentner, vom Mittelschulprofessor bis zur Be-amtenswitwe reichte. In Linz, der Stadt, um die sich hier vieles dreht, gab es sie bis in die zweite Nachkriegszeit hinein tatsächlich, diese selbstsicheren Träger völkischer Alpträume, diese feste Burg des Mißverstehens, fernab von Europa, fernab vom ganzen, weiten „undeutschen“, daher bösen

oder wenigstens verächtlichen, bunten, drohenden, unverständlichen Erdball, den auch nur zu kennen Dekadenz, den anzuerkennen Verrat bedeutete. Wagte man es, als konservativer Rebell gegen die etablierte völkischjakobinische Phrase aufzustehen, so hatte man sich die Folgen selbst zuzuschreiben und sah sich auf ungleich grausamere Weise ausgestoßen als etwa die grollende, aber immerhin kompakte Masse der linken Doktrinäre, die sich aneinanderdrückten und glücklich waren, hassen und sich verfolgt fühlen zu können. Dem konservativen Rebellen stand damals der Titel eines „Volksverrä-ters“ zu, den zu erwerben ebenso Ehrensache war wie heute die Auszeichnung, von der etablierten Linken als „faschistoid“ denunziert zu werden.

Gelungen ist auch die Schilde-

rung einer Schönerer-Versamm-lung mit obligater Wotans-Anbetung und einer Lueger-Versammlung mit obligater Demagogie. Warum sich Kaiser Franz Joseph, verantwortlich für zahlreiche Nationalitäten, Juden mitinbe-griffen, so sehr dagegen sträubte, durch die Bestätigung des hochbegabten Politikers Lueger auch dessen folgenschwere Antisemite-lei zu legitimieren, scheint heute noch den naiveren unter den Konservativen nicht klar geworden zu sein. Darf man, um hohe, aber unpopuläre Ziele zu erreichen, auf der Woge österreichischen Fremdenhasses reiten, darf man Demagoge sein, um geniale Visionen zu verwirklichen? Und wenn man es tut (und nicht nur Lueger tat es), mit welcher ungeahnt neuen Münze zahlt die Zukunft es heim? Diese Frage ist keine rhetorische.

Rhetorisch hingegen Axel Cor-tis, des Regisseurs, zu diesem Film gestellte Frage, ob das Milieu, der Schoß, der einen Hitler gebar, heute denn wirklich unfruchtbar sei. Er war es nie. Er gebar ohne Unterlaß. Nur heißt, was nachher kam, nicht mehr Hitler, nur redet, was inzwischen aufwuchs, eine andere, momentan zeitgemäße linke Sprache, nur führen die Methoden der Massen-mißleitung längst in allerlei andere Richtungen. Nicht nur das Schwert kann töten, nicht nur die Kugel und das Giftgas. Auch der Neid, auch die Ichsucht, die Lüge und die ausrottbare Dummheit.

Beide Dokumentarspiele wissen insgeheim darum, daß jede Vision, sei sie nun himmlisch oder höllisch, Aussicht hat, Wirklichkeit zu werden. Wer keine Träume hat, bleibt Maschinist. „Sind Sie ein Phantast?“ fragte vor Jahren ein ORF-Reporter den Paneuro-päer Otto Habsburg und glaubte, den Befragten ironisiert zu haben. „Waren Sie ein Phantast, Doktor Herzl?“ fragt nunmehr ein Dokumentarspiel im Angesicht des jungen Staates Israel. Antwort in beiden Fällen: „Wir waren und wir sind es.“ Denn nichts kann Wirklichkeit werden, es sei denn vorher erschaut, erdacht, erträumt worden.

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