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Theater — für wen oder gegen wen?

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Worum es Curt Riess in seinem Theaterbuch geht, signalisiert der auf dem Schutzumschlag abgedurckte markante Satz Boleslav Barlogs, Direktor des Berliner Schillertheaters: „Endlich findet jemand den Mut, gegen die Phalanx der modernistischen Schreier und Macher anzugehen.”

So knüppeldick, so undifferenziert ficht Riess, der sich für einen „altmodischen Mann” konservativer Prägung hält, nun freilich nicht. Er ist gegen vieles: gegen Jurymitglieder, die Stücke nicht nach künstlerischen, sondern nach politischen Gesichtspunkten auswählen; gegen das Gros der Theaterkritiker, die am Besucherschwund schuld trügen, weil sie unfähig geworden seien, ihre Funktion — nämlich Maßstäbe setzen, Ratgeber sein — auszuüben. Ihre „Arroganz und Selbstüberschätzung” ließe sie lieber (Theater-) Politik statt Kritik betreiben. Er ist gegen „Umfunktionderung”, gegen „Manipulation” von Stücken, insbesondere von Klassikern, durch junge Regisseure, welche die Welt mit Hilfe des Theaters zu revolutionieren trachteten, was noch nie und niemandem geglückt sei, denn politisches Theater müsse ins Leere führen. Er ist gegen Underground, gegen Straßentheater und Happenings, und in diesem Zusammenhang fällt sogar einmal die Bezeichnung „Rampengammler”. Er ist gegen Kollektivregie und Mitbestimmung, gegen die ewigen Diskussionen, diesen „Krebsschaden des Theaters, das sich heutig nennt”, weil sie nur auf „Unfähigkeit und Unwissenheit” basierten.

Breiten Raum nehmen die Charakteristiken jüngerer Regisseure und die Zergliederung einzelner (im positiven wie im negativen Sinn) auf sehenerregender Inszenierungen ein. Am meisten hält er noch von dem Brecht-Schüler Peter Palitzsch, dem brillanten Werner Düggeiin, dem hochbegabten Wiener Hans Hollmann. Kritisch wird er erst jenen Jungen gegenüber, denen es vor allem oder ausschließlich darum zu tun sei, „das Etablierte in Frage zu stellen, lächerlich oder unmöglich zu machen”. (Übrigens spricht er vielen von ihnen hohe Begabung zu, Intelligenz und die Fähigkeit, Schauspieler zu führen.) Als den Hauptverantwortlichen für diese Richtung bezeichnet er Peter Zadek, der als erster mit dem Umfunktionieren von Klassikern begonnen habe, dem Stücke gleichgültig seien und ledig lich als Vorlagen für seine szenischen Phantasien dienten. Zadek manipuliere aus Überzeugung. „Ich will kein intellektuelles subtiles Theater, ich will scharfe Kontraste und Schocks.” Seine „Räuber” waren zwar eher langweilig und kamen einer Abwertung Schillers gleich, seiner freien Variation von Shakespeares „Maß für Maß” jedoch billigte eine wohlwollendere Kritik die „Realisierung einer Körpersprache für das Schauspieltheater” zu und als Grundzug: „Wahrhaftigkeit, ohne Shakespeare zynisch auszubeuten.” Riess widmet dieser Inszenierung Zadeks nicht weniger als dreieinhalb Druckseiten und läßt als einzig Gutes der Aufführung gelten, daß sie nur anderthalb Stunden dauerte. Als besonderen Regiegag vermerkte er ironisch, daß zwei Schauspieler auf Stühlen den Kopfstand übten, was angeblich den Stephansturm in Shakespeares irrealem Wien markieren sollte (den es übrigens um diese Zeit noch gar nicht gegeben hat).

Mehrere Druckseiten widmet Riess dem jungen Regisseur Peter Stein („ein beachtlicher Bursche”, der „als genialer Regisseur” gilt), vor allem seiner bemerkenswertesten Inszenierung, dem „Tasso” in Bremen, der später auch in Frankfurt, Zürich und Berlin gezeigt wurde. Riess stellt seiner eigenen „Tasso”-Auffassung Zadeks „Vergewaltigung Goethes” gegenüber. Steins „Tasso” sei nur ein Clown, der über die Bühne torkle, also eine „komplette Umfunktionierung des klassischen Textes”, „um so gefährlicher, weil das Ganze nämlich wirklich gekonnt ist”. Andere Kritiker sprachen allerdings von „der durchdachtesten, aufregendsten Inszenierung”, wie sie schon seit langem nicht dem westdeutschen Theater vergönnt gewesen sei. Und für Peter Steins Ehrlichkeit und künstlerisches Gewissen führten sie an, daß er und seine Schauspieler zu Beginn der Pause an die Rampe liefen und sich beklagten, daß sie bei weitem nicht alles, was sie anläßlich des „Tasso” empfunden hätten, in der Aufführung unterbringen konnten. Riess zitiert am Ende einen Satz Gustav Mahlers: „Etwas interessant zu machen, ist gar nicht so schwer. Aber es richtig zu machen — das ist sehr, sehr schwierig!”

Ein anderes Beispiel: Hans Neuenfels hatte Sensation erregt, weil er in Edward Albees „Alles im Garten” ein offenes Klo, das von einer Frau benützt werden, eine Dusche, in der nackt geduscht und zwei Betten, auf denen sich ‘auch allerhand abspielen sollte, hineinzuinszenderen versuchte. Uber Einspruch des Verlages und des Autors wurde das Experiment jedoch abgebrochen. Der mißglückte Regieeinfall regte Curt Riess zum Untertitel seines Buches an. Hier handle es sich nicht mehr um Entlarvung der Gesellschaft, kommentiert Riess zutreffend, sondern um die Selbstüberschätzung eines jungen Regisseurs, „der glaubt, durch Regiegags die Verrottung einer Gesellschaft besser porträtieren zu können als — immerhin! — Edward Albee”. Das Buch von Curt Riess ist als eine umfassende Theaterchronik der allerletzten Jahre zu werten, fußend auf Unterhaltungen mit Theaterleuten aller Kategorien und Jahrgänge, auf Umfragen, Theaterbesuchen und ausgewerteten Kritiken. Ausgezeichnet etwa das Kapitel sechs über politisches Theater, über Meyerhold, Piscator und andere. Polemisch und subjektiv, wird das Buch Zustimmung und Widerspruch hervorrufen. Nicht alle seiner zahlreichen Abneigungen wird man teilen.

Lohnte es sich, auf die „Barrikade” zu steigen, wie Curt Riess es in seiner Streitschrift tut? Sicherlich! Theaterdämmerung — vielleicht doch zum Hellen hin. Halten wir uns daher an den Haupttitel des Buches und streichen wir den Untertitel, der ja nur den Ausriahmefall trifft.

THEATERDÄMMERUNG oder Das Klo auf der Bühne. Von Curt Riess. Hoffmann-und-Campe-Verlag, Hamburg. 256 Seiten. DM 15.—.

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