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Ultimos Ritos' in Haarlem

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Vor zwanzig Jahren, beim Anhören von „Kreuzspiel“ oder „Kontrapunkt“, hätte man Mühe gehabt, in Karlheinz Stockhausen den Mystiker der siebziger Jahre zu sehen, und ebenso ließ man sich 1968 täuschen durch die geistreichen Einfälle und die augenfällige Theatralik von „The Whale“ und malte sich erwartungsvoll aus, wie wohl die nächsten Werke des jungen John Tavener (geb. 1944) aussehen würden. Dabei hätten einen vielleicht die Affinität zu Olivier Messiaen stutzig machen sollen, aber die „Three surrealistic Songs“ schienen den ersten Eindruck zu bestätigen. Dann folgten in kurzen Abständen das „Celtic Requiem“, die Totenmesse für Father Malachy Lynch, das „Respon-sorium in memory of Annon Lee Silver“ und das „In memoriam Strawinsky“, und es bestand bald kein Zweifel mehr darüber, daß Sterben und Tod im Zentrum von Taveners Oeuvre steht

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Vor zwanzig Jahren, beim Anhören von „Kreuzspiel“ oder „Kontrapunkt“, hätte man Mühe gehabt, in Karlheinz Stockhausen den Mystiker der siebziger Jahre zu sehen, und ebenso ließ man sich 1968 täuschen durch die geistreichen Einfälle und die augenfällige Theatralik von „The Whale“ und malte sich erwartungsvoll aus, wie wohl die nächsten Werke des jungen John Tavener (geb. 1944) aussehen würden. Dabei hätten einen vielleicht die Affinität zu Olivier Messiaen stutzig machen sollen, aber die „Three surrealistic Songs“ schienen den ersten Eindruck zu bestätigen. Dann folgten in kurzen Abständen das „Celtic Requiem“, die Totenmesse für Father Malachy Lynch, das „Respon-sorium in memory of Annon Lee Silver“ und das „In memoriam Strawinsky“, und es bestand bald kein Zweifel mehr darüber, daß Sterben und Tod im Zentrum von Taveners Oeuvre steht

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„Ultimos Ritos“ für Vier Chöre und großes Orchester behandelt ebenfalls „das Sterben in sich selbst und das Leben in Gott“. Das Werk wurde „ad honorem San Juan de la Cruz“, eines spanischen Dichters und Mystikers des 16. Jahrhunderts, geschrieben, und neben Auszügen aus den Evangelieft bilden Fragmente seiner Gedichte den Text des groß angelegten Werkes, das 1972, kurz nach seiner Beendigung, mit dem Perugia-Preis für religiöse Musik ausgezeichnet wurde, und nun im Rahmen des Holland-Festival, dem Auftraggeber in der St. Bavokerk von Haarlem unter Mitwirkung von Mitgliedern des Holländischen Rundfunkorchesters, den BBC-Singers unter John Pool und einigen Solisten zur Aufführung gelangte.

Das Kreuz steht im Zentrum des kruziformen Werkes und bestimmt Form, Besetzung, Aufführung und Wahl der Kirche; von Johann Sebastian Bachs „Crucifixus“ der h-Moll-Messe ist das gesamte musikalische Material abgeleitet, und auch die Zahlensymbolik ist durch die Kreuzigung bestimmt. Den fünf Teilen des Kreuzes (vier Arme und Mitte) entsprechen die fünf Sätze, die sieben letzten Worte am Kreuz werden durch die sieben Trompeten, den siebenstimmigen Kontrapunkt, die sieben Nägel versinnbüdlioht und die ersten sieben Noten der Zwölftonreihe sind Bachs Cruzifixus entnommen. Was in dem Werk an kunstvollen Kanons, Spiegelformen, Umkehrungen, Palindroms, mittelalterlichen Artifizien und seriellen Techniken vorhanden 'ist, läßt sich nicht aufzählen und interessiert den Hörer auch nicht unmittelbar. Wichtig ist es nur deshalb, weil sich dahinter der Mönch, der gläubige Christ, verbirgt, dessen Artefakt zu Ehren des Höchsten und nicht zur Erbauung seiner Mitmenschen erschaffen wird und dem es nicht darauf ankommt, ob Symbolik, Rätsel und Geheimnis der Schrift sich dem Hörer mitteilen oder dem Ohr verborgen bleiben. Tatsächlich herrscht über den Inhalt um so mehr Unklarheit, als eine Kirche mit einem Sechssekundenecho, wie Tavener es verlangt, nicht zur Deutlichkeit beiträgt und die vielsprachigen Texte sich kaum unterscheiden von den scheinbar zusammenhanglosen Silben im ersten Satz, bis man darin die Umkehrung der letzten Takte erkennt. Auf spekulativer Ebene wird hier ein künstlicher und kunstvoller Überbau hergestellt: uns interessiert jedoch vor allem der Klang.

Mit einem erbarmungslosen 12-Ton-Tutti-Cluster („Christus am Kreuz“) beginnt der erste Satz („Gesänge von Christus und der Seele“). Zwei Chöre, die lang ausgehaltene Noten in wohlklinigender Polyphonie singen, werden in regelmäßigen Abständen unterbrochen von den zwei anderen Chören, die ruckweise abgerissene Akkorde herausstoßen (das Einschlagen der Nägel), während sich die vier Homer in wilden, leidenschaftlichen Melismen ergehen. Später rufen Pfeifen und Trommeln siebenmal zum Tanze auf, was in spanischen Kirchen genauso traditionsbelegt ist wie Liebeslieder und Minnedienst. Im zweiten Satz („Gesang der Seele, die frohlockt im Erkennen Gottes durch den Glauben“) psalrno-dieren zwölf Bässe ein Gedicht von San Juan, während von der höchsten Empore sieben Trompeten ornamentale Einwurfe liefern. Bei der darauffolgenden „Descenso de la Eucaristia“ hört man abwechselnd siebenmal den düsteren, siebenstimmigen Kontrapunkt von Posaunen, Orgel und Pauken und genauso oft den sanften, harmonischen Satz von Trompeten und Flöten, von dem die Kirche widerhallt. Über einen Akkord aus Bachs h-Moll-Messe wird im dritten Satz („El Nomen Christo“) in 50 Sprachen der Name Jesus psalmodiert und gesprochen, adoriert und gemurmelt, anfangs in langen Noten, später rhythmisch skandiert, zum Schluß in chaotischem Wirrwarr, wenn Orgel und Blechbläser sich „gegenseitig die Akkorde zuwerfen“ und die Dynamik sich innerhalb von 90 Sekunden von vierfachem Piano zu vierfachem Forte steigert. Das vielfach repetierte „Jesu“ wird allmählich zur Klangkulisse, während ein reich verziertes fünffaches Motiv von dem Mezzosopran (Patricia Fowden-Price) in verzückter Exaltation wiedergegeben und von vier Instrumenten in regem Austausch aufgenommen wird.

Das Zentrum des Satzes und des gesamten Werkes bildet die Tramssubstantiation, wenn dreimal die großen Kirchenglocken erklingen und dazwischen ein „Priester“ auf spanisch die Worte des Abendmahles spricht. Solche Effekte mögen etwas naiv wirken, aber sie verfehlen nie ihre Wirkung. Im rein instrumentalen vierten Satz („Verse in Spiegelform“) wird der Geist Bachs durch einen fünfstimmigen Kontrapunkt heraufbeschworen, und ohne Unterbrechung leitet er über in den rein vokalen fünften Satz („Nach einer Ekstase höchster Kontemplation geschrieben“). „Oruci-fixus“ singen die vier Chöre, und unaufällig werden sie von einem Fragment San Juans kontrapunktiert. Dann erklingt Bachs Crucifixus in der Originalfassung und bei den Worten „Et sepultus est“ verlöscht die Musik Taveners und „wird unter dem Choral Bachs begraben“. So wenigstens steht es in der Partitur, und so hört man es bei der Rundfunk- und Fernsehübertragung. Die Zuhörer in Haarlem mußten auf den Schluß verzichten, da Tavener das Bachsche Fragment unverständlicherweise auf Tonband aufgenommen hatte und die Apparatur versagte.

Dadurch ging natürlich ein wichtiger Aspekt verloren, aber auch sonst wäre kaum die Wirkung zustandegekommen, mit der Tavener gerechnet hatte. Dafür ist das holländische Publikum zu nüchtern, die Kirche zu reformiert, die Einstellung zu skeptisch, die Symbole wirkten zu naiv, die Artefizien zu artefizell und die Motivierungen zu äußerlich, so daß die Zuhörer vor allem durch die Vielschichtigkeit, die monumentale Anlage und die Kontraste zwischen harmonischem Dreiklangssatz, den zwölftönigen Clustern und der ornamentalen Melodik beeindruckt wurden. Die zweifellos effektvollen Melismen wären vielleicht noch besser zur Geltung gekommen, wenn Site wirklich improvisiert worden wären, wie sie den Eindruck erweckten, und eine Koloratursängerin war jedenfalls fehl am Platz in einem Kontext, in dem man lieber den Mönch eines spanischen Klosters gehört hätte. Unter der Leitung von John Pool leisteten Chor und Orchester Ungewöhnliches, doch schienen manche Instrumen-talisten gelegentlich überfordert und die Technik brach gänzlich zusammen.

Daß gewisse Ubereinstimmung mit Krzysztof Penderecki und Olivier Messiaen bestehen, sollte man Tavener nicht zum Vorwurf machen, denn sie vertreten heute eine Manier, die allgemein akzeptiert ist und sich nicht auf einzelne Komponisten beschränkt. Vielmehr wäre vielleicht Besinnung, Sammlung und Bescheidung an der Zeit.

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