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Und in der Freizeit ein wenig Brutalität

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Ich möchte nichts anderes beschreiben als ein Gesicht Wir sehen dieses Gesicht meistens nur von der Seite her und nur für einige Sekunden, aber auch diese sehr kurze Zeitspanne genügt, um die Art und die Bedeutung der Physiognomie zu erfassen. Zudem sehen wir das Gesicht ziemlich oft, besonders auf der Autobahn, aber auch im Stadtverkehr das Gesicht jenes Autofahrers, der einen anderen Autofahrer oder gleich eine ganze Kolonne überholen will, mit zusammengebissenen Zähnen, um jeden Preis.

Das Auffallendste an diesem Gesicht ist, daß es sich mit einer mühsam erkünstelten Konzentration der Windschutzscheibe zuwendet. Der Kraftakt des Überholens wird von einem kleinen, stereotypen Schauspiel begleitet, das in der Zeichensprache etwa so viel sagen möchte: Ich sehe euch alle nicht, ich bin mit dem Lenken meines Fahrzeuges so sehr beschäftigt, daß ich bei dem besten Willen keine Möglichkeit finde, die von mir rechts zurückbleibenden Überholten zu bemerken - sie sind für mich Luft Neben dieser Bot schaft soll die Pantomime aber auch noch eine zweite Bedeutung übermitteln. Man könnte sie vielleicht folgendermaßen formulieren: Schaut her, hier seht ihr einen Sieger im Augenblick seines Triumphes, einen Mann der Willenskraft und der Konzentration, einen Rekordler, der alle Verkehrsteilnehmer und auch sich selbst dem großen Ziel bedingungslos unterordnet!

Die Spahnung, die in den Gesichtszügen liegt, ist nicht ganz und gar vor- gegaukelt, sie ist bloß überhöht, denn in ihr wird der krampfhafte Druck auf das Gaspedal theatralisch weitergeführt und zur Grimasse des Durchhaltens bis zum Endsieg hochstilisiert. Anderseits verrät dieses Wegschauen ein Quäntchen schlechtes Gewissen. Der Sieger fühlt irgendwo in der Magengegend, daß er sich im Augenblick nicht sehr gut benimmt, ja, daß er sich sogar, sogar ein wenig gehen läßt. Denn auf dem Arbeitsplatz oder im Gasthaus, in einem öffentlichen Park oder in einer Amtsstube würde er sich den anderen Menschen gegenüber weniger brutal benehmen oder seine Brutalität gewiß besser tarnen. Manchen Autofahrerinnen, die er nun rücksichtslos hinter sich läßt, würde der Kraftmensch sogar Blümchen überreichen.

Ich könnte solche Flucht-, Schauspiel- und Renommierversuche der armen, gehetzten, der Leistung nachjagenden Kreatur während der Monate des intensiven Berufslebens noch verstehen. Warum aber sehen wir dieses verbissene Gesicht auch in Fahrzeugen, die mit Urlaubsgepäck voll bepackt sind? Im Fond sitzt wohlgelaunt, in bunter Freizeitkleidung, die Familie, auf dem Dach liegt sachkundig befestigt das hübsche Schlauchboot, Mama hat sich auf dem Beifahrersitz unter dem elastischen Gurt halb umgedreht, um den Kindern etwas zu erklären, allein Papa schiebt drohend das Kinn nach vom, kneift die Augen zusammen und besiegt mit heulendem Motor einen Autofahrer nach dem anderen. Er macht auch im Urlaub keine Pause. Kann er ganz einfach nicht mehr abschalten? Oder fühlt er sich nun endlich befreit von den lästigen Pflichten eines zivilisierten Menschen? Lebt er sich aus? Betreibt er in seiner Freizeit am liebsten ein wenig Brutalität?

Das Automobil ist für manche Fahrer ein vernünftiges Mittel der Fortbewegung, für andere sogar ein rollendes Kämmerchen einsamer Meditationen, doch taucht zwischendurch das böse, verbissene, verschlossene, verkrampfte Gesicht immer wieder auf. Der Biedermann, als Verbrecher stilisiert: bereit, über Leichen zu gehen - und nicht nur bildlich gesprochen.

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