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Unterwegs nach Deutschland

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Am vergangenen Sonntag ging in Leipzig die Buchmesse zu Ende. Ob es sie 1994 noch geben wird, weiß niemand. In einem Cafe ist für unsere kleine Gruppe ein Tisch bestellt. Ein Kärtchen signalisiert den Zeitpunkt. Als wir ankommen, sitzt ein Paar dort, ins Gespräch vertieft, aber vor leeren Tassen. Die Konsuma-tion ist offenbar schon abgeschlossen. Ohne besondere Dringlichkeit und höflich machen wir darauf aufmerksam, daß hier für uns besetzt ist. Es kommt zu einem kleinen Disput; er steht plötzlich auf und beide verlassen abrupt ihre Plätze. Im Weggehen wünscht uns der empörte Sachse mit bösartigem Sarkasmus „gute Geschäfte".

Es ist eine merkwürdige Vorsicht, die da im Gespräch oft spürbar wird, so als habe sich die Angst vor dem anderen in den Genen eingenistet: Reflexhafte Reaktionen, eingeübt in Jahrzehnten der Diktatur. Über Politik redet man nicht gern, über Politiker möchte man gern schimpfen, aber man hält sich zurück: „Die müssen irgendwie so agieren, aber die Wahrheit sagen sie nicht", meint ein Taxler in Leipzig.

Im einstigen ostdeutschen Aufbau-Verlag erscheint dieser Tage ein Buch mit dem Titel „Unterwegs nach Deutschland". Da offenbaren junge Menschen im wiedervereinigten Deutschland ihr Lebensgefühl. Der vierzehnjährige Lars aus einer sächsischen Kleinstadt beweist, daß er einen ganz ungewöhnlichen Durchblick hat, wenn er zum Beispiel seine Familie schildert, in der alle rumhängen und auf irgendwas warten: „Viele denken, irgendwann muß das Paradies doch ausbrechen. Und während sie warten, wird gekauft."

In Leipzig fällt auf, daß es viele neue Geschäfte gibt, die bereits wieder geschlossen sind: „Wir danken für ihre Treue", steht darauf. Doch die Treue war nur kurz, weil die Gelegenheit fehlte, sie länger zu üben.

Lars findet, daß sich jetzt jeder nur für sich selbst interessiert: „Ich hab' das Gefühl, alles läuft auseinander." Und für die Vorsicht hat Lars auch eine Erklärung. Sein Vater klagt, daß von „drüben" Leute auftauchen, die sich als Alleskönner ausgeben. Sie betonen, daß sie zu bestimmen hätten, weil sie ja auch das Geld hergeben, mit dem die Arbeitsplätze erhalten werden können. Lars mit dem scharfen Blick stellt fest, daß sich „die von uns" zwar beschweren, aber immer nur hinter vorgehaltener Hand, weil man sich bei den neuen Chefs nicht unbeliebt machen will: „Ich kann das schon nicht mehr hören. Früher hat mein Vater auch immer gesagt, man kann ja doch nichts ändern, jetzt sagt er dasselbe."

Da wundern sich die Jungen, die unbefangener sind. Und sie sind entschlossen, etwas zu ändern.

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