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Zwei Anlässe, in Österreich an Stalins Opfer zu denken: Memorial zeigt in Wien Gulag-Kunst, ein Buch erinnert an die Schicksale von Österreichern in den Lagern des "Archipel Gulag".

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Zwei Anlässe, in Österreich an Stalins Opfer zu denken: Memorial zeigt in Wien Gulag-Kunst, ein Buch erinnert an die Schicksale von Österreichern in den Lagern des "Archipel Gulag".

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Eine Regierungslimousine bringt am 8. Jänner 1933 in Moskau die Wienerin Mia zur Arbeit, die ihr das Zentralkomitee der KPdSU freund-licherweise verschafft hat. Sie soll "das Kind eines verantwortlichen Arbeiters in Deutsch unterrichten" und wird monatlich 80 Rubel ver-dienen, dazu das Essen für sich und ihren dreijährigen Sohn. Das kann das Überleben bedeuten angesichts der unvorstellbaren Hungersnot in Moskau. In den vergangenen Mona-ten wäre sie mit ihrer Familie fast verhungert.

Mia Spitz ist, wie so viele, mit ihrem Mann voll Begeisterung in die Sowjetunion gekommen, um am Aufbau einer besseren Welt mitzuarbeiten. Ihr Schicksal ist eines der typischen Schicksale, die als Beispiel für viele, bekannte wie unbekannt gebliebene, in einem roten Bändchen "Memorial-Österreichische Stalin-Opfer" (Junius-Verlag, Wien 1990) geschildert werden. Memorial widmet sich in der Sowjetunion ohne Förderung, äußerst zögernd akzeptiert, dem Gedenken an die Millionen Opfer Stalins, unter denen sich viele Österreicher befanden, und der Erforschung der stalinistischen Verbrechen.

Mia Spitz wurde eingeschärft, über alles zu schweigen, was ihre Arbeit betrifft. Das Auto hält vor einer Luxusvilla. Ihr Schüler, der vierjährige Garik, bewohnt mit seiner Kinderfrau drei Zimmer. Erste Frage ihres eigenen Sohnes: "Mama, wohnen da Bourschoi?" Die Kin-derfrau: "Erklären Sie Ihrem Sohn, daß wir keine Bourschoi sind, son-dern verantwortliche Arbeiter!"

"Verantwortliche Arbeiter" - das waren jene, die hoch über den ge-wöhnlichen Parteimitgliedern thronten. Die Inhaber der Privilegien, mit denen Stalin seine verläßlichen Helfer verwöhnte - bis er sie erschießen ließ. "Verantwortliche Arbeiter": Die Verlogenheit der Sprache entlarvt die Verlogenheit der Systeme.

Garik ist anmaßend und über-heblich, protzt mit seinem Reichtum und schikaniert Mias Sohn Walter. Sie bemüht sich bald um andere Arbeit, muß aber warten, bis eine Nachfolgerin gefunden ist: "Dakann man nur eine Genossin hinschik-ken, ein Parteimitglied". Gariks Vater sieht sie nur einmal, und nur durch Zufall erfährt sie, wer er is*: Genrich Jagoda, der Mann, vor dem die Sowjetunion zittert. Der Chef der Geheimpolizei GPU.

Mia Heybey-Spitz wurde in eine Arbeiterfamilie hineingeboren: Großeltern, Eltern, Onkel Sozial-demokraten, seit dem siebenten Lebensjahr neben dem Schulbesuch Arbeit. Kindergärtnerin und Säug-lingsschwester. Nach längerer Ar-beitslosigkeit wegen gewerkschaft-licher Betätigung Arbeit im Mon-tessori-Kindergarten "in den legendären Grinzinger Baracken". Kontakt mit den Kommunisten, KPÖ-Beitritt. Sie lernt den polnischen Studenten Markus Spitz kennen. Er hat "als Sohn eines Textilf abrikan-ten... angespornt von der russischen Revolution... mit seiner Klasse gebrochen" und in Wien die sowjetische Staatsbürgerschaft angenommen.

1928 wurde Markus Spitz nach Moskau kommandiert, seine Frau durfte ihn - was alles andere als selbstverständlich war- begleiten. Er wurde Chefingenieur im Ministerium für Schwerindustrie, konnte aber wegen seiner "bourgeoisen Abstammung" nicht KPdSU-Mitglied werden. Mia hingegen darf beitreten - mit der Auflage, mit ihrem Mann nie über Parteiangelegenheiten zu sprechen. Sie wechselt in den Kindergarten des Ministeriums für Außenhandel, später den Komintern-Kindergarten im Hotel Lux, überall bleiben die Namen der Kinder geheim.

Immer mehr Verhaftungen. Der Sohn, nun sieben, hat sich angewöhnt, die letzte Seite der Prawda zu lesen, wo die Listen der Versetzten und Verhafteten stehen. Eines Tages sagt er: "Mama, jetzt werden wir verhaftet! Jagoda ist verhaftet worden, und wir haben ja bei ihm gearbeitet!"

Am 3. Mai 1938 holen acht Männer mit aufgepflanzten Bajonetten Markus Spitz. Mia wird ins gefürchtete Lubjanka-Gef ängnis gebracht, wo sie vier Monate eine Zelle mit der Schwester von Marschall Tu-chatschewski (FURCHE 27/1990), anderen Prominentenfrauen und etlichen Spitzeln teilt. Die Verhandlung dauert drei Minuten. Der Richter: "Ob Sie unterschreiben oder nicht, ist ganz gleichgültig, ins Lager kommen Sie für acht Jahre. Das Urteil war fertig, da waren Sie noch in Freiheit.

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