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Weltgeschichte(n)

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Ich hatte einen seltsamen, wirren Traum. Zuerst hielt ich die schemenhafte Gestalt, der ich an einem undefinierbaren grauen Ort gegenüberstand, für Metternich, aber dann war es doch Heinrich Heine. „Hoppla“, sagte er, „woher und wohin?“

„Ich weiß es eigentlich nicht“, sagte ich „von irgendwo ins Nirgendwo.“

„Aha“, sagte er, „ich hätte es mir gleich denken können. Ein Skribent, dessen Zeitung verboten wurde.“

„Keine Spur“, sagte ich, „verboten sind wir niemals worden, höchstens ein einziges Mal beschlagnahmt.“

„Mit einem solchen haben wir nichts zu tun“, sagte eine schneidende, etwas hohe Stimme hinter mir, „denn wer schreibt, ohne verboten zu werden, hat nichts zu sagen.“

Ich fuhr herum und stand Voltaire gegenüber. „Das lasse ich mir nicht bieten“, rief ich, „was haben denn Sie für eine Ahnung von den Zeiten, in denen ich lebe? Heute wird man nicht so leicht verboten.“

„Außer natürlich, man beleidigt den Staat, provoziert einen Richter oder verletzt das Zartgefühl einer männlichen Gouvernante“, sagte ein untersetzter, sehr jovial wirkender Herr mit Hofratsecken.

„Nicht einmal dann, Herr Tucholsky“, sagte ich, „Sie können heute den Staat verhöhnen, vor

Richtern sitzenbleiben und Nackte so nackt abbilden, wie Sie wollen — nichts geschieht.“

„Dann leben Sie ja tatsächlich in der besten aller möglichen Welten“, sagte Voltaire.

„Dürfen Sie etwa einen Minister kritisieren?“ fragte ein sympathischer, sehr abgeklärt wirkender Herr.

„Soviel ich will, Herr Kisch“, sagte ich, „ich darf ihn ruhig die größte Katastrophe für das Land nennen.“

„Und Sie werden nicht eingesperrt?“ fragte Voltaire.

„I wo“, sagte ich, „höchstens lädt er mich zu einem Privatgespräch ein und erklärt mir, daß ich ihn gründlich mißverstanden habe.“

„Und wenn Sie sich am Staatsoberhaupt reiben?“ fragte Heine.

„Passiert auch nicht viel“, sagte ich, „höchstens würde man mich für einen ungehobelten Klotz halten.“

„Aber wer bekommt denn dann die Daumenschrauben?“ fragte ein Mann, in dessen Augen es feurig glänzte, und in dem ich Giordano Bruno zu erkennen glaubte.

„Daumenschrauben gibt es überhaupt nicht mehr“, sagte ich, „in dem Teil der Welt, in dem ich lebe, ist der Strafvollzug humanisiert, und der andere Teil der Welt hat wesentlich wirkungsvollere Methoden entwickelt, Menschen zu quälen und zum Reden zu bringen.“

„Dann gibt es in Ihrem Land keine miserablen Minister mehr?“ fragte Voltaire.

„Doch“, sagte ich, „die gibt es immer.“

„Dann werden keine ungerechten und unsozialen Gesetze mehr gemacht, die ein Skribent mit Gewissen in der Luft zerfetzen muß?“ fragte Heine.

„Doch, genug“, sagte ich.

„Und es gibt keine Korruption mehr, keine Skandale, keine Verschleuderung öffentlichen Geldes, keine beamteten Idioten und Popanze?“

„Doch, doch, keine Sorge“, sagte ich, „das alles gibt es natürlich nach wie vor.“

„Gott sei Dank“, sagte Thomas

Morus, „ich dachte schon, das köstliche Metier der Utopie sei von der Wirklichkeit vernichtet worden!“

„Aber wieso“, sagte Tucholsky, „dürfen Sie das alles, alles so offen schreiben?“

„Weil es die Menschen nicht lesen“, sagte ich.

„Und wie ist es im anderen Teil der Welt, in der Sie leben?“ fragte Heine.

„Dort ist alles so, wie es zu Ihreu Lebzeiten war“, sagte ich, „in mancher Beziehung etwas besser, in anderer Beziehung noch schlimmer.“

Langes Schweigen herrschte in der Runde. Dann sagte Voltaire: „Wenn ich noch einmal zur Welt komme — dann lieber dort!“

„Wir auch“, murmelten die anderen. LUKIAN

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