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Der Geist von '4 5

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Der Geist des Jahres 1945 wird nur noch selten zitiert. Es war daher leicht, ihn für ein Exklusivinterview zu gewinnen.

„Da bin ich“, sagte er, „stets zu Diensten!“

„Wie geht's?“ fragte ich ihn.

„Sie sehen ja, wie ich ausschaue“, sagte er, „heruntergekommen, abgezehrt bis auf die

Knochen, nicht einmal die Hunde heben mehr ein Bein gegen mich. Ich bin zur Unperson geworden. Ich bin das, was heute noch ärger ist als tot: Ich bin out!“

„Das kann ich kaum glauben“, sagte ich, „habe ich Sie denn nicht noch vor kurzer Zeit bei einer spiritistischen Sitzung getroffen?“

„Ich ahne, wovon sie reden, Sie meinen das Rudiment einer bestimmten politischen Diskussion, die schon wieder aufhörte, bevor sie richtig angefangen hatte“, sagte der Geist von 1945, zerdrückte eine Träne, die ihm über den fleischlosen Backenknochen lief, und fuhr fort: „Auch bei dieser Gelegenheit bin ich nicht mehr zitiert worden und durfte daher nicht in Erscheinung treten. Es handelte sich um meine Zwillingsschwester.“

„Von der wußte ich ja nichts!“ sagte ich.

„Doch“, sagte er, „Sie kennen sie gut. Sie ist zwar auch tot, aber nicht ganz so tot wie ich. Sie heißt Große Koalition.“

„Ach so“, sagte ich, „Sie sind mir viel lieber!“

„Sagen Sie das nicht laut“, meinte der Geist von 1945, „damit machen Sie sich keine Freunde. Ich war der unbequemere Geselle. Drum ließ man mich auch nur wenige Monate leben. Aber in den ersten Jahren nach meinem Dahinscheiden war wenigstens das

Geistern ganz lustig, da wurde ich so oft zitiert, daß ich gar nicht zur Ruhe kam. Aber heute? Grabesstille um mich. Dabei reißt es mich in allen Knochen, daran spüre ich, wie sehr man' mich braucht.“

„Warum schleppen Sie diesen schweren Korb mit sich?“ fragte ich.

„Den darf ich niemals niederstellen“, sagte der Geist von 1945, „darin sind die guten Vorsätze unserer demokratischen Parteien, über all ihren Streitigkeiten nie zu vergessen, daß sie sich über die wichtigsten Dinge einig sind.“

„Aber unsere Demokratie ist doch nicht in Gefahr!“ rief ich.

„Nein“, sagte der Geist von 1945, „aber wenn sie so weitermacht, gehen Dinge zugrunde, die ebenso wichtig sind. Zum Beispiel das Vertrauen der jungen Menschen in die Demokratie.“

„Haben Sie eigentlich einen Buckel?“ fragte ich.

„Ich schleppe unterm Geisterhemd alle Probleme mit, die die Politiker vor sich herschieben“, sagte er.

„Ärmster“, sagte ich, „warum baumelt eine kleine Mumie von Ihrem Gürtel?“

„Das ist von der Entschlossenheit dieses Staates geblieben, die Kinder in den Schulen über die Vergangenheit zu informieren und sie in einem Geist der Toleranz zu erziehen, das arme Kerlchen war von klein auf etwas mickrig“, sagte der Geist von 1945.

„Und warum riechen Sie so schlecht aus dem Mund?“ fragte ich.

„Das stört mich selber am meisten, aber es kommt von wo anders“, sagte er und verschwand.

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