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Wo Banker beten

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Gefüllte Kirchen an allen Sonntagen, öffentliche Gebete bei Parlamentssessionen, Konferenzen und Klubessen, Sternenbanner neben Hochaltären und hauptamtliche Kongreßkapläne lassen zunächst vermuten, die Amerikaner seien ein stark kirchlich orientiertes Volk. Wie überall, ist die Wirklichkeit auch in diesem Fall differenzierter.

Nur etwa 140 der 220 Millionen Bewohner der USA gehören der katholischen (etwa 50 Millionen) oder einer der vielen evangelischen Kirchen (zusammen 73 Millionen) oder einer sogenannten Freikirche oder dem jüdischen Glauben (sechs Millionen) an. Von den 80 Millionen, die in dieser Rechnung übrigbleiben, haben sich etwa 30 Millionen religiösen Gruppen verschrieben, die man auch bei äußerst liberaler Definition von „Religionsgemeinschaft“ nur noch als Sekten oder Extremgruppen definieren kann.

Ihr Spektrum reicht von einer religiös gefärbten Astrologie über Parapsychologie und fernöstliche Meditationstechnik bis zu Hellseherei, Geisterbeschwörung und Teufelsanbetung. Es gehört zu den tiefverwurzelten Überzeugungen eines Amerikaners, daß jeder nach seiner Fasson leben und auch mit Himmelsmächten in Verbindung treten soll, so daß es für führende Politiker selbstverständlich ist, sich für die freie Betätigung aller dieser Gruppen einzusetzen.

Nur im Licht dieses ehrlich gemeinten leidenschaftlichen Freiheitsbekenntnisses sind Verwendungsbemühungen prominenter Politiker und auch der Präsidentengattin Rosalynn Carter für die „Volkstempler“ zu sehen, die sich zweifellos nicht schon von Anbeginn als Massenhysteriker mit Mord- und Selbstmordbereitschaft verdächtig gemacht haben.

So notwendig es ist, gefährlichen Fantasierungstendenzen bei Sekten rechtzeitig entgegenzutreten und den vielfach geübten Gesinnungsterror zu bekämpfen, darf man darüber doch nicht das starke Bedürfnis nach Geistigem und Geistlichem übersehen, das den meisten dieser Bewegungen zugrundeliegt.

Mehr als in kirchlich geschlosseneren Ländern wie dem unse-

ren kann man im Vielkircheniand USA der jüngsten Entwicklung entnehmen, daß die sogenannten evangelisierenden, charismatischen, missionarischen Kirchen rascher und stärker wachsen als die etablierten Kirchen, die nur mäßig Mitglieder gewinnen oder überhaupt stagnieren. Ruth Sta-pleton, die jüngere Schwester von Jimmy Carter, die seit 21 Jahren als „Glaubensheilerin“ durchs Land zieht, ist eine der vielen Kronzeuginnen hiefür.

Viel extremer noch sind natürlich Gruppen wie die Vereinigungskirche des koreanischen Predigermillionärs Sun . Myung Mun („Munies“), die Hare-Kri-schna-Bewegung und nicht wenige muslimische Sektierer wie die Hanafi-Muslims, die 1977 in Washington eine spektakuläre Geiselnahme inszenierten.

Den Trend zu außerkirchlichen Meditationsformen spiegeln aber auch jene vielen Kleingemeinschaften wieder, die sich in Büros und Konferenzzimmern von Banken und Versicherungsgesellschaften zu „Gebetsfrühstük-ken“ treffen. Mindestens vier verschiedene Gruppen tun dies wöchentlich selbst im New Yorker Bankenimperium der Wall Street, wo Spitzenmanager von Continental Oil, der Chase Manhattan Bank oder der Generaldirektor des Juwelenkonzerns Tiffany zu jesusbezogener, aber deutlich antikirchlicher Meditation zusammentreten.

„Man würde nicht glauben, wieviel weltliche Macht in einem solchen Kreis vertreten ist“, resümierte ein Großbankier diesen merkwürdigen Trend. Und Tiffa-ny-Boß Walter Hoving verkündete kamerawirksam: „Religion ist so einfach. Man öffnet sich dem Herrn und der Herr hilft...“

Pfarrer sollten bei Millionären in die Lehre gehen. Oder eher in sich? Denn eines steht wohl fest: Alle diese seltsamen Erscheinungen zeigen doch, daß es ein starkes, international nachweisbares Bedürfnis nach Transzendenz gerade in der Wohlstandswelt gibt -und daß die Kirchen dieses für viele nicht befriedigen können. Ein Grund zum Nachdenken nicht nur für Priester, sondern für alle, die Kirche sind.

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