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Sie wachsen uns über den Kopf...

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In der guten, alten Zeit, also vor dem Jahre 1914, war es allgemein üblich, daß der Anzug, den der Vater durch drei Jahre für „das Bessere” und zwei Jahre an den Alltagen getragen hatte, gewendet und für den ältesten Sohn zurechtgemacht wurde. Drei Jahre später, als der Stoff zu „spiegeln” begann und die Ellbogen und Knie allzu deutlich hervorzutreten begannen, wurde der Anzug neuerlich gewendet. Der Stoff sah ja noch recht gut aus. Man lobte die gute Ware und schneiderte aus ihr einen Anzug für den jüngeren Sohn. Und erst nach weiteren Jahren, als der Hosenboden schon recht bedenklich durchgescheuert war, kam er in den Besitz einer verarmten Familie. Die Sitzfläche wurde erneuert. Die Kanten wurden eingefaßt und die Ausbuchtungen durch energische Schnitte weggezaubert. Zuerst trug der Älteste den Anzug, dann -—der Reihe nach — auch die anderen ‘Kinder? Ais- -endlich üWn der -alten Pracht zwischen den vielen Flicken nichts mehr zu sehen War? ,1f

All das könnte heute nicht mehr gemacht werden, selbst dann nicht, wenn der Stoff dieser jahrzehntelangen Beanspruchung gewachsen wäre. Denn: Der ältere Sohn ist größer als der Vater! Lind der jüngere länger als der ältere!

Ständiges Wachstum •

Die Beobachtung, daß die Jüngeren die Älteren an Länge übertreffen, kann man fast in jeder Familie machen. Dann auch in den Schulen: Die vorderen Bankreihen bleiben leer, und die für die Unterbringung der größeren Kinder bestimmten Bänke stehen lange nicht in der erforderlichen Anzahl zur Verfügung.

In der Steiermark hat man sich der Mühe unterzogen, die durchschnittliche Körperlänge der zur Musterung kommenden jungen Männer jahrgangsweise festzustellen. Dabei konnte ermittelt werden, daß unter anderem die im Jahre 1941 Geborenen, als sie zur Musterung antraten, erheblich größer waren als die vor fünf Jahren Einberufenen, im Jahre 1937 zur Welt gekommenen . Von je 100 zur Untersuchung des Jahres 1937 angetretenen waren 8,4 größer als 180 cm, aber 13,5 Prozent des Jahrganges 1941! Eine Länge von mehr als 170 cm, aber weniger als 180 cm erreichten 54,5 der älteren und 59,5 Prozent der jüngeren Männer! Gleichzeitig ging die die Zahl jener, die nicht einmal 15 5 cm erreichten, von 0,8 auf 0,3, die der 155 bis 159 cm großen von 2,5 auf 1,3 und die der Gruppe 160 bis 169 cm von 33,8 auf 15,4 Prozent zurück!

Uns interessieren besonders auch die Beobachtungen, die in den rein ländlichen und in den vorwiegend städtischen Bezirken gemacht wurden: In den mit vorwiegend landwirtschaftlicher Bevölkerung erreichten nur 50 Prozent der Stellungspflichtigen eine Körpergröße von 170 bis 180 cm und nur fünf Prozent eine über dieses Maß hinaufgehende. In Graz und in

’Festl. fünf Jahre Wehrstatistik in der Steiermark. Statistische Nachrichten. Heft 4. Wien. Österreichisches statistisches Zentralamt 1961.

den städtischen Bezirken aber waren 60 Prozent der Stellungspflichtigen größer als 170 cm und zehn Prozent über 180 cm!

Das Körpergewicht der Jüngeren stieg in ähnlichem Maße, wenn auch nicht so stark an. Aber auch in diesem übertrafen die Kinder der Stadt die des Landes! Im fünfjährigen Mittel waren die Stellungspflichtigen zum Beispiel im Bezirk Hartberg (56 % landw. tätig),

169.5 cm groß und 62,0 kg schwer; Bezirk Feldbach (66 % landw. tätig),

170.5 cm groß und 61,2 kg schwer; Bezirk Bruck (14 % landw. tätig), 173,4 cm groß und 65,2 kg schwer; Bezirk Graz (2,3 % landw. tätig), 174,2 cm groß und 65,1 kg schwer.

An und für sich würden diese Feststellungen keinen Nachteil für die ländliche Bevölkerung bedeuten: Denn Rersönen mit einer größeren Körperlänge und einem höheren Gericht sind nicht immer auch gesünder und leistungsfähiger wie kleinere mit einem geringeren Gewicht. Aber unbedingt beunruhigend sind andere, in derselben

Arbeit festgestellten Ergebnisse: Von je hundert gemusterten Bauernsöhnen und Landarbeitern waren 8,4 Prozent untauglich, in dem rein bäuerlichen Bezirk Hartberg sogar 8,9! Von 100 Angestellten waren hingegen 6,1 Prozent, von den Studenten 5,2 und von den Industriearbeitern 4,7 Prozent untauglich! In einer Reihe vorwiegend ländlicher Bezirke Niederösterreichs konnten ähnlich ungünstige’/ Musterungsergebnisse festgestellt werden: Von 100 Stellungspflichtigen waren in Lilienfeld 14,6, in Melk 14,7 und in Scheibbs sogar 15,7 Prozent untauglich, in ganz Niederösterreich 8,6. In einzelnen ländlichen Bezirken erwies sich der Gesundheitszustand erfreulicherweise weit günstiger So waren in den Bezirken Horn und Gmünd 4,9 Prozent aller Stellungspflichtigen untauglich, in Hollabrunn

3,4, in Mistelbach sogar nur 3,0 Prozent!

Interessant, aber höchst unerfreulich sind noch folgende Feststellungen: Von den als tauglich befundenen Bauernsöhnen wiesen 44 Prozent Zahnschäden auf (in Feldbach 60,8 Prozent), von den Industriearbeitern 36,5 Prozent (in Bruck 25 Prozent!)! Eine leichte Anlage zur Kropfbildung wurde bei 32,5 beziehungsweise 27,9 Prozent festgestellt und das Vorhandensein von geringfügigen Fußkrankheiten bei 42,6 beziehungsweise 37,8 Prozent. Verhältnismäßig häufig waren Schäden an der Wirbelsäule und Krampfadern, und nicht ganz selten ein Zurückbleiben der geistigen Entwicklung. Sehfehler, Lungen- und Herzkrankheiten waren dagegen seltener als bei den Stellungspflichtigen aus anderen Berufen. (2,4 Prozent Herzleiden in Feldbach, über 6,2 Prozent in Bruck!)

Die Ursache des Zurückbleibens des Wachstums und vor allem des Gesundheitszustandes der ländlichen Bevölkerung sind bekannt, werden aber — insbesondere von dieser selbst — kaum beachtet und auszuschalten versucht. Leider ist auch in absehbarer Zeit keine Besserung dieses Zustandes zu erwarten, da die sich immer stärker fühlbar machende Landflucht dem Bauernstand andauernd die besten und gesündesten Menschen entzieht und damit den durchschnittlichen Gesundheitszustand immer mehr herabdrückt. (Höchst beunruhigend sind die in der Arbeit enthaltenen Angaben aus dem Bezirk Fürstenfeld: Bei der Volkszählung des Jahres 1951 bekannten sich 44 Prozent der Bevölkerung zur landwirtschaftlichen Berufsgruppe, aber von den Stellungspflichtigen des Jahrganges 1941 nur mehr 21,7 Prozent.)

„Unterentwicklete” Landjugnd

Man dürfte nicht fehlgehen, wenn man für die unbefriedigende Entwicklung der ländlichen Jugend auch die einseitige und vitaminarme Ernährung in den Wintermonaten mit verantwortlich macht. In neuester Zeit kann man nun in einigen Gegenden den Beginn einer sich anbahnenden Umstellung in der Ernährungswirtschaft feststellen, im Gefolge der Einbürgerung der Kühlanlagen: Es wird weniger Rauchfleisch und mehr frisches Fleisch und auch mehr Obst und Gemüse gegessen, wodurch eine Überbrückung der vitaminarmen Winterkost erreicht wird. (Als besondere Freunde des Kühlgemüses erweisen sich die leider so vielen magenkranken alten Bauern, die nun endlich statt der bisher ausschließlichen reinen Milchkost auch im Winter eine andersartige Nahrung erhalten.)

Es ist zu hoffen, daß diese Umstellung in der Ernährung, die von unseren Haushaltslehrerinnen mit viel Geschick und Eifer verbreitet wird, eine allgemeine Verbesserung der Gesundheit unserer ländlichen Bevölkerung mit sich bringen wird, die unbedingt mit allen Mitteln ‘ngestrebt werden muß!

Vergessen wir nicht: Die besten Maschinen. Gebäude. Einrich ungen und Verfahren werden überflüssig, wenn der Mensch fehlt, sie zu nutzen!

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