Bei den Gottesmalern von Susdal

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In den russischen Meisterwerkstätten östlich von Moskau kommen Liebhaber der Miniaturmalerei voll auf ihre Kosten.

Rosa Ferkel quieken aufgeregt in zwei grob gezimmerten Holzkäfigen. Daneben sitzen zwei Babuschkas, tratschen ein wenig und warten auf Käufer, die sich heute gar nicht recht einstellen mögen. In der Mitte des staubigen Dorfplatzes steht ein ausrangierter Linienbus der Weimarer Verkehrsbetriebe, Marke Ikarus. Kleine Birken ragen aus dem Dachgebälk der halbverfallenen Kirche.

Auf den ersten Blick sind damit sämtliche Sehenswürdigkeiten des kleinen Örtchens Mstjora erschöpft. Natürlich bin ich nicht die 350 Kilometer von Moskau hierher gezockelt, um die Ferkel, die Babuschkas oder gar die Linienbusse anzusehen. Auch meine Reisegefährten, ein gutes Dutzend Geschäftsleute und Botschaftsangestellte aus Moskau, hatten anderes im Sinn. Die Liebe zu den herrlichen Miniaturmalereien auf Lackdöschen hat uns in dieses verschlafene Nest geführt.

Mstjora bildet mit Palech und Cholui, unseren weiteren Reisezielen, das Zentrum der russischen Lackmalerei. Die drei Dörfer liegen etwa 100 Kilometer nördlich des Städtchens Susdal, das lange Zeit das kulturelle Zentrum dieser Region östlich von Moskau war. Seit alters nennt man die Künstler hier die Gottesmaler, denn früher malten sie keine Miniaturen, sondern Ikonen. Die Ikonen dieser Gegend waren so berühmt, dass sie nicht nur in Moskau und St. Petersburg gefragt waren, sondern auch im fernen Sibirien, in Bulgarien und Mazedonien hohe Preise erzielten. Die Oktoberrevolution setzte 1917 dem blühenden Geschäft der Gottesmaler ein jähes Ende. Religiöse Kunst durfte nicht mehr verkauft werden. In den ersten Jahren der Kommunistenherrschaft wurden die Ikonenmaler gezwungen, Eisenbahnwagons, Schlagbäume, Laternenpfosten und dergleichen anzustreichen. 1924 begannen einige Künstler in Palech, sich eine neue Verdienstmöglichkeit zu suchen: Miniaturmalerei auf Lackdöschen.

Fürsten & Raumfahrer

Galina, die wissenschaftliche Leiterin des Kunstmuseums, das gleich hinter den Ferkelkäfigen am Marktplatz liegt, erklärt uns anhand der Exponate ausführlich die Geschichte und Technik der Lackdosen- und Ikonenmalerei.

Eigentlich stamme die Lackkunst aus China und Japan, doziert Galina, deren strenger Typ mich an eine Mädcheninternatsleiterin aus einem alten Kinofilm erinnert, aber nach Russland sei sie über Deutschland gekommen. Ende des 17. Jahrhunderts brachte Korobow, ein russischer Händler, einige Meister aus Braunschweig mit nach Russland. Sie produzierten Tabakdosen aus Lack, damals ein gefragter Modeartikel und Verkaufsschlager. Die russischen Künstler veränderten Motive und Stil nach ihrem Geschmack und in Fedoskino, einem Dorf unweit Moskaus, entstanden zuerst die typischen Miniaturportraits, Landschaften und Genreszenen. Die Schule von Mstjora hingegen liebt besonders die realistische Darstellung des Dorflebens: Rotbäckige Bauern arbeiten auf den Feldern oder zechen heiter in der Dorfschenke, kleine goldschwänzige Eichhörnchen huschen durch den Wald und knabbern verstohlen an leckeren Eicheln.

Auch die Helden der russischen Märchen und Erzählungen geben sich ein Stelldichein: Vergeblich mühen sich da Narren, Musikanten und Spaßmacher die nie lachende Zarin zu erheitern, und die fürchterliche Hexe Baba Jaga reitet auf ihrem Besen durch die stürmische Nacht. Ein Kutscher treibt mit kräftigem Peitschenschlag sein Dreigespann zu solch mörderischem Tempo an, dass es dem innig umschlungenen Pärchen im Schlitten fast die Mützen vom Kopf reißt. Sogar zu einem Streifzug durch die Geschichte laden die minutiösen Malereien laden ein. Ein russischer Großfürst zerreißt wütend die Urkunde, die ihn zur Tributzahlung an die Mongolen verpflichtet, wild entschlossen rüsten sich Revolutionäre zum Kampf, und Juri Gagarin steht in voller Montur bereit zum ersten Raumflug.

Auf dem Weg in eine Meisterwerkstatt passieren wir wieder die Ferkel, die mittlerweile träge dösen. Die dick bekleideten Babuschkas schwatzen hingegen unverdrossen.

Die Meisterstücke des Museums haben uns den Mund ganz wässrig gemacht. Nur die Eurythmielehrerin aus Bonn und die finnische Botschaftssekretärin lauschen noch andächtig den Erklärungen des Meisters, die anderen stürzen sich auf die zum Verkauf angebotenen Döschen, Broschen und Schächtelchen wie auf ein gut bestücktes Gratis-Buffet.

Von "gratis" kann hier allerdings nicht die Rede sein. Unter 100 Dollar ist eine zigarettenschachtel-große Dose nicht zu haben. Der Kauflust tut dies keinen Abbruch, schließlich sind einige der eingefleischten und frischgebackenen Miniaturliebhaber eigens ins Mekka dieser Kunst gepilgert, um ein schönes Stück aus Meisterhand zu erhaschen. Selbst wer, wie ich, nichts kauft, hat neben dem Augenschmaus den zusätzlichen Nutzen, künftig gegen alle Verlockungen der Billigangebote Moskauer Souvenirhändler gefeit zu sein. Einem Gratis-Buffet nicht unähnlich, macht der Verkaufsstand nach einer halben Stunde einen ziemlich geplünderten Eindruck. Auf der Busfahrt nach Susdal wird die Beute, die eigene und die der anderen Kunstjäger, genüsslich in Augenschein genommen, fachmännisch verglichen und liebevoll wieder eingepackt.

In Susdal wieder Russland wie aus dem Bilderbuch: Aus der Ferne lacht eine Schar Zwiebeltürmchen herüber, die einen glänzen golden, die anderen sind blau, mit Goldsternchen geschmückt. Zwischen den Linden und Birken ragen schlanke, weiße Glockentürme in den blauen Himmel empor. Schmucke, kleine Holzhäuschen säumen den Weg und auch die wenigen Steinhäuser haben höchstens zwei Stockwerke.

Susdal ist ein Glücksfall. Denn die knapp 12.000 Einwohner zählende Stadt, in einer Schleife des Kamenka-Flusses konnte ihr altrussisches Stadtbild weitgehend bewahren. Als eine der ältesten Städte Russlands war Susdal im 12. Jahrhundert sogar für kurze Zeit Hauptstadt der Rus und übertraf an Fläche und Einwohnerzahl das damalige London. Später wurde es Bischofsstadt. Der Susdaler Lieblingsbeschäftigung war offensichtlich das Kirchenbauen. Im 16. Jahrhundert kamen auf 400 Höfe knapp 50 Kirchen. Da dürfte selbst Rom nicht mithalten können. 1862 baute man die Eisenbahnlinie Moskau - Nischnij Nowgorod - 30 Kilometer an Susdal vorbei! Worüber sich damals wohl nicht wenige geärgert haben, freuen sich heute kunstbeflissene Touristen und all jene, die an ihnen verdienen. Susdal fiel in einen 100-jährigen Dornröschenschlaf und war Ende des 19. Jahrhunderts fast vergessen. Die wenigen Einwohner lebten von Gartenbau und Bienenzucht. In den sechziger Jahren wurde Susdal von Kunsthistorikern und Restaurateuren wachgeküsst, die hier in einer wahren Flut von Kunstschätzen schwelgen konnten.

Kostbares Glockenspiel

Eine besondere Kostbarkeit Susdals ist das Glockenspiel des Erlöser-Euthymus-Klosters. Allein der herrlichen Fresken aus dem 17. Jahrhundert wegen würde sich die Reise aus Moskau lohnen, aber das Glockenspiel ist wirklich unerhört.

Drei Glöckner turnen auf dem hohen Turm zwischen Seilen und Stricken hin und her und zaubern aus den gut zwei Dutzend Glocken ein wunderbares Klanggewebe. Mit Händen und Füßen ziehen und treten sie die Seile, an denen die Klöppel befestigt sind. Das ganze sieht nach Schwerstarbeit aus. Nach der Oktoberrevolution durften keine Kirchenglocken mehr geläutet werden, daher gab es am Ende der Sowjetherrschaft kaum noch erfahrene Glöckner. Doch seit 1990 werden an den russischen Musikhochschulen wieder Kurse für Glockenspiel abgehalten.

Selbst ein mieser Reiseführer listet mindestens 20 sehenswerte Kirchen und Klöster auf. Ein absolutes Muss ist aber das Ensemble des Kreml, zu dem man auf einem kleinen Holzsteg über das schilfgesäumte Flüsschen gelangt. Vor Kraft strotzende Löwen blicken von den Kapitellen der Maria-Geburts-Kathedrale auf uns herab. Es ist ihnen nicht anzusehen, dass sie schon 700 Jahre auf dem Buckel haben. Auf den goldenen Türen, dem ältesten Zeugnis des russischen Feuergusses, sieht man wie Lazarus dem Grab entsteigt, was die Anwesenden so verblüfft, dass sie zu Boden fallen. Ähnlich eindrucksvoll werden die anderen Heilungsgeschichten des Neuen Testaments dargestellt. Die Turmuhr des erzbischöflichen Palais gleich gegenüber schlug früher nicht nur Stunden und Viertelstunden, sondern gar jede Minute. Demjenigen, der das ständige Gebimmel abgestellt hat, gilt unsere volle Sympathie.

Klänge & Düfte

Pflichtgemäß haken wir weitere Kirchen, die klassizistischen Handelsreihen und diverse Klöster ab, bevor wir im Hotel von Rezeptionistinnen empfangen werden, die in puncto Charme nur noch von den Kassierinnen der Moskauer Lebensmittelgeschäfte übertroffen werden. Überraschenderweise lächelt die Schlüsselfrau.

Die gute Küche des Nonnenklosters Maria Schutz und Fürbitt', das sich sanft in die Kamenka-Auen schmiegt, ist um vieles berühmter als etwa sein monastisches Leben oder die Kunstschätze. Auch unser Hauptinteresse gilt einem leckeren Abendessen. Es lohnt sich aber durchaus, nicht sofort das Refektorium anzusteuern, wenn man durch das Heilige Tor in den herrlichen Innenhof gelangt ist, sondern zumindest der schönen Kathedrale von 1510 etwas Beachtung zu schenken. Bei meinem Besuch steht die Tür weit offen und der schöne Gesang der Nonnen lädt zu einem kurzen Verweilen ein.

Ein knappes Dutzend ganz in schwarz gekleideter Nonnen steht vor der schlichten, neuen Ikonostase im Kreis, ein Pope in goldenem Brokat dahinter im Altarraum. Wieder und wieder verbeugen sich die Nonnen. Es fällt mir schwer, mich loszureißen, denn der schöne Gesang fügt sich mit dem Weihrauchduft und dem Glanz der Ikonen im Kerzenlicht zu einer wunderbar harmonischen Abendstimmung

Noch ein kurzer Besuch in Cholui, dem idyllischsten der drei Künstlerdörfer, das am romantischen Thesa-Flüsschen liegt, und wir können als echte Lackkunst-Experten die Rückreise nach Moskau antreten. Mir kommen die Miniaturen mit den Dreiergespannen wieder in den Sinn, die elegante Schlitten durch tief verschneite Winterlandschaften ziehen: Pferdegetrappel, eisiger Wind und in der Ferne das goldene Leuchten der Kirchenkuppeln in der Wintersonne. Das ist das Faszinierende an den kleinen Döschen. Es scheint, als hätten die Künstler die Fähigkeit, nicht nur die Farben in die Miniaturen zu bannen, sondern auch die Klänge und Düfte, und vielleicht nennt man sie daher auch heute noch: die Gottesmaler.

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