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„Hut ab!”

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In letzten, Jahre-meiner Dienstzeit kurz vor dem Kriege, wurde ich einem Kürassierregiment in einer kleinen Stadt an der Loire zugeteilt. Ohne Zögern und ohne Murren verfügte ich mich in meine neue Garnison. Schon am folgenden Tage präsentierte ich mich dem Regimentskommandanten. „Sous-lieutenant Willemin …”, meldete ich in militärischem Ton. Der Oberst saß an einem Tisch, ich sah aber von ihm nichts als ein paar blitzender Stiefel und ein Monokel, beides blendete mich fast. Sekunden vergingen, der Oberst rührte sich nicht, offenbar wartete er; aber auf was? Kalter Schweiß begann von meiner Stirn zu tropfen, als er sich endlich mir zuwandte: „Willemin … quoi?” sagte er einfach. „Willemin, e’est tout, mbn colonel!” antwortete ich. Er hüstelte, murmelte etwas wie: „Ah, bon hieß mich willkommen und lud mich ein, meine neuen Kameraden in der Messe der Leutnants aufzusuchen, da es gerade Essenszeit war. Aber warum, zum Teufel, hatte er auf jene Art gezögert und gewartet? Alles wurde mir klar, als die Herren, einer nach dem anderen, mich an der großen Tafel empfingen. „ … Leutnant Comte de Veyre (oder so ähnlich) du Roucroy”, sagte der erste. „Leutnant Marquis de la Haute-Futaie”, sprach der zweite. „Leutnant Baron Feline de Retraite des Brosses”, der dritte … Zuerst dachte ich, daß hier ein amüsanter Zufall in gleicher Gesellschaft drei oder vier der letzten Träger von Adelstiteln, Ueberlebende unserer unzähligen Revolutionen, zusammengeführt habe, aber als der vierte, der fünfte, der sechste und der siebente mir ihre schwindelerregenden Namen und doppelten bzw. dreifachen Titel präsentierten, fühlte ich mein bürgerliches Blut aufwallen und ich antwortete jedesmal: „Leutnant Willemin, ohne nix von Paris!” Die anderen lächelten nachsichtig. — Wir wurden in der Folgezeit gute Freunde. — Aber als ich an den letzten kam, sagte der mir ganz einfach: „Aspirant Leveau!” Ich meinerseits machte mir nun die Mimik des Colonels zu eigen: „Leveau … quoi?” frug ich, indem ich ein imaginäres Monokel einklemmte. „Leveau, tout court”, antwortete er verblüfft. „Ah, ah”, rief ich näselnd aus, „Sie sind wohl der Vertreter des .Dritten Standes’?” — „Aber nein”, entgegnete er, mokant lächelnd, „der .Dritte Stand’, das sind SIE! Ich vertrete den Klerus, im Zivil bin ich Abbe!” — Ueber Aufforderung des gräflichen Menagemeisters setzten wir uns hierauf alle freundschaftlich zu Tisch und man trank auf mein Wohl. „Au roi et ä la France!” rief Leutnant Marquis de la Haute- Futaie, indem er sein Glas hoch über sein Haupt erhob. Ich entdeckte plötzlich in mir eine Passion für die Republik, wie ich sie nie in mir vermutet hätte: „A la Republique, ä la France!” rief ich meinerseits. „Respektieren wir die wohlerworbenen Rechte des .Dritten Standes’!” sprach nachsichtig der gräfliche Menagemeister. Und wenn ich in der Folge aus Courtoisie und eingedenk meiner guten Erziehung mit ihnen auf den König trank, so tranken die anderen gut und gerne, alle fünfzehn wie sie waren, „auf die Republik!” So repräsentierte unsere Tafel genau die „Generalstaaten” von 1789 … Der Abbe Leveau war der Vertreter des Klerus, ich jener des „Tiers-Etats”. Während der sieben oder acht Monate, die wir dort gemeinsam verbrachten, verteidigte der Aspirant freundlich uiid verständnisvoll die Rechte und Pflichten seines Ordens. Was mich betrifft, so fühlte ich mich als authentischer Beauftragter des Volkes.

„Wenn es nicht zu den ererbten Vorrechten des Adels gehört, den Senf zu monopolisieren, würde ich darum bitten ..sagte ich beispielsweise. „Man wird nicht ermangeln, darüber zu dėliberieren ..entgegnete der Baron mit ernster Miene. Und die Senfdose erreichte mich durch die gütige Vermittlung zweier Marquis, dreier Grafen und eines Barons. Unsere Beziehungen waren ausgezeichnet, aufrichtig und männlich, von gutem Humor getragen …, aber wir wurden niemals „Kameraden” etwa im Sinne wie dies in einer Offiziersmesse der Infanterie der Fall zu sein pflegt. Zuvorderst: wir duzten uns nicht. „Wozu sollte ich Sie duzen ..sagte Leutnant Baron Feline de Retraite des Brosses, „wo ich doch SIE 2 meiner Mama, meinen Brüdern und Schwestern und meiner kleinen Cousine sage, nicht zu reden von mir selbst!” — Kurz, wie man sieht, „nous n’ėtions pas du mėme monde …” Auch hatten wir eine durchaus verschiedene Optik mit Bezug auf Menschen und Dinge. Sie sprachen von Schlössern, Jagden, Stammbäumen und mit besonderer Vorliebe von Pferden …. nicht aus Affektation, nicht aus Snobismus, wie man befürchten könnte, nein, weil eben die Pferde ihre Leidenschaft waren! Was mich betrifft, so muß ich gestehen, daß mir meine Kameraden merkwürdig frivol erschienen. Ihre Courtoisie schien mir maniriert, ihre Ausdrucksweise geschraubt. Ich fühlte ihnen gegenüber ein Gemisch von Mitleid und uneingestandener Eifersucht, Mitleid, wie man es unnützen, armen Teufeln entgegenbringt. „Ihr trinkt auf das Wohl des Königs”, sagte ich eines Tages, „es ist euer gutes Recht, aber ich finde, daß die Republik ein gutes Mädchen ist, da sie euch Kommandos überläßt, Pferde zur Verfügung stellt und euch Gelegenheit gibt, beim .concours hippique’ Preise, bunte Bänder und Pokale zu gewinnen; nehmen wir aber an, daß — Gott behüte! — ein Krieg ausbrechen würde, dät würdet ihr eine schöne Figur machen!” — „Was wissen SIE schon davon!” antwortete mir ein Marquis sanft. Heute schreibe ich diese Zeilen, um einzugestehen, daß ich tatsächlich „nichts davon wußte …” Und selbst wenn man die Umstände berücksichtigt, so finde ich, daß ich mich wie ein Kretin benommen habe … Durch Zufall wurde ich bei Beginn des Krieges der Infanterie zugeteilt und ich habe keinen dieser Männer wieder gesehen: sie sind alle gefallen … Sie gehörten einer jener Aufklärungsgruppen an, welche 1940 so erstaunliche Leistungen im Moselgebiet, in Belgien und in den Ardennen aufzuweisen hatten. Seither erfuhr ich, daß am Morgen des 9. Juni der Oberst alle seine Herren an der Tafel vereinigte, ihnen trocken und sachlich zu verstehen gab, daß nun ihre Rolle nicht mehr darin bestehe, eine Menge bunter Bänder auf dem Rennplatz zu gewinnen, sondern daß sie zu sterben hätten wie ihre Ahnen … Sie tranken zum letzten Male „Au roi, ä la France!”, zogen ohne Hast ihre Handschuhe an, schwangen sich aufs Pferd und … starben für die Republik …

Ich weiß nun auch, daß der kleine Leutnant Comte des Martres de Veyre du Roucroy, so lächerlich mit seinem Monokel und seinem Schnurrbärtchen, eingekreist von deutschen Panzern, sich mit seinem Zug durch den von feindlichen Truppen wimmelnden Ort mit Säbelhieben und im Galopp einen Weg bahnte …, ich weiß auch, daß Leutnant Marquis de la Haute-Futaie, über den ich mich wegen seiner Kavalleristenbeine, „style Louis XV.”, lustig machte, allein mit vier seiner Reiter einen Tankeroberte … ich weiß … aber ihre Geschichte wäre zu lang, um sie hier zu beschreiben; andere, welche berufener sind als ich und niemals an ihnen gezweifelt haben, werden sich damit befassen …

Ich konnte in der Folge während vier langer Jahre konstatieren, wie die Adelstitel total aus der offiziellen militärischen Welt verschwunden waren. In der Umgebung des Marschalls — ganz allein — konnte man wohl Generale und Admirale finden, aber es waren „Duponts” und „Durands” — „tout court”. Und als jene, welche niemals an Frankreich verzweifelten, endlich eine Armee aufbauen und den heimatlichen Boden betreten konnten, waren die Chefs, schon allein was den Generalstab betrifft: Charles de Gaulle, die Generale de Lattre de Tassigny, de Larminat, de Marmier, de Monsabert, de Boislambert usw. … einer nur trug einen bürgerlichen Namen: Ledere — aber (pas de chance!) er hieß in Wahrheit: „Marquis de Hauteclocque …”

Und alle tranken auf das Wohl der Republik! Eh, bien, messieurs, der „Dritte Stand” zieht den Hut vor euch!

Aus dem Französischen übersetzt von H, Christanell

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