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Jacob Grimm in Wien

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Der Germanist Jacob Grimm weilte zur Zeit bes Wiener Kongresses, und zwar vom 27. September 1814 bis Ende Juni 1815, als Legationssekretär des kurhessischen Ministers Graf von Keller in Wien und stand die ganze Zeit über in regem Briefwechsel mit seinem Bruder Wilhelm in Kassel, so daß wir über seine Wiener Eindrücke und Erlebnisse genau unterrichtet sind. Von Regensburg an wurde die Fahrt mit einem Ruderschiff auf der Donau unternommen. An der bayrischen Grenze bei Passau bemerkt er: „Bei den Weibern hören hier herum die Bandhauben auf und sie binden Tücher um, welches in Österreich fortwährt, außer, daß da auch die Goldhauben häufig werden, die manchmal gar zierlich stehen und gemacht sind." Die Gegend von Linz ist eine der schönsten, die er gesehen hat. Von den anderen merkwürdigen Orten nennt er namentlich auch den Dürnstein, Richard Löwenherz’ Gefängnis.

Graf Keller wohnte zuerst in der Alleegasse Nr. 79, Jacob Grimm selbst noch 50 Schritte abseits in einem andern Haus, seit Anfang November hausten sie beide gemeinsam in der Panigigasse Nr. 80, nächst der Karlskirche.

Die rauschenden Feste des Wiener Kongresses, die der französische Graf Auguste de la Garde in so leuchtenden Farben schildert, interessieren unseren Jacob Grimm nicht im mindesten. Zu einer Redoute mit 10.000 Masken ist er mit seinem Billet gar nicht hingegangen. Als ihm sein Bruder Wilhelm ganz besorgt mitteilt, „daß jemand dem Kurfürsten bemerklich gemacht, daß Du die Zeit, die Du in Gesellschaft zubringen solltest, um so viel als möglich zu erfahren, für Deine Arbeit auf der Bibliothek zubrächtest", antwortet ihm Jacob ganz kühl und gelassen mit dem berühmt gewordenen Ausspruch des Fürsten von Ligne: „Le congres danse beaucup, mais il ne' marche pas“ und fügt bei: „Alle Wochen berichten wir zweimal und unser letzter Bericht war achtzehn Folioseiten, der heutige gar vierundzwanzig von meiner Schrift stark, und von allen Beilagen werden Kopien behalten. In den letzten vierzehn Tagen habe ich wirklich nur dreimal auf die Bibliothek gehen können."

An Stelle des seichten Geschwätzes und des Flirts in den Salons suchte Jacob Grimm sofort Fühlung mit dem geistigen Wien: „Bei Friedrich Schlegel, der übrigens im Dienst .von Österreich steht und gut bezahlt wird, aber nichts zu arbeiten bekommt, sah ich mehrerlei Leute." Grimm erwähnt neben Dorothea Schlegel und dem Breslauer Arzt Koreff, der später als Günstling des preußischen Staatskanzlers Hardenberg eine Zeitlang eine bedeutende Rolle spielte, den Dänen Graf Baudissin, bekannt durch seine Teilnahme an der Schlegel- Tieckschen Shakespeare-Übersetzung, und den österreichischen Dichter Matthäus von Collin. „Collin ist mir sehr aufrichtig und gutmütig vorgekommen und gehört zu den fließenden, braven Dichtern, die man nicht beleidigen möchte und doch nicht liest; solche Leute mit ihrer Zufriedenheit haben etwas besonders Rührendes.“ Während das Römerdrama „Regulus" und die Wehrmannslieder von 1809 seines älteren Bruders Heinrich noch heute in jeder Literaturgeschichte ehrenvoll erwähnt werden, ist Matthäus von Collin als Dichter völlig vergessen. Und doch war er von ganz bedeutendem Einfluß auf Grillparzer.

Bei Friedrich Schlegel trifft Jacob Grimm auch die beiden Buchhändler Cotta und Bertuch, die wegen der Nachdrucksangelegenheit zum Kongreß kamen, aber nichts ausrichteten und sich dafür im Apollosaal trösteten. Zur Karoline Pichler nahm sich Grimm vor, auch einen Abend hinzugehen und von Zacharias Werner bemerkt er ganz kurz: „Werner ist hier in der Nähe in einem Kloster und soll alsbald predigen, weshalb Neugierige sonntags dahinfahren, aber bisher noch immer angeführt wurden.“

Grimms geistiges Hauptquartier war jedoch die Wiener Hofbibliothek, wo ihn besonders die altdeutschen Handschriften interessierten: „Auf įzr Bibliothek finde ich weniger, als ich dachte; bin aber da, so wie ich abkomme; leider verleihen sie nichts heim, nicht einmal ein Buch, geschweige eine Handschrift.“ Der berühmteste Mann an der Hofbibliothek, der Slawist Bartholomäus Kcpitar, mit dem sich Grimm gern unterhalten hätte, war aber nicht zugegen. „Kopitar ist leider nicht hier, sondern in Paris der abzugebenden Manuskripte wegen. Seine Sammlung slawischer Volkslieder stockt auch daran.“ Aber den nicht weniger berühmten Orientalisten Josef von TLammer-Purgstall hat Grimm kennengelernt. In seinem Auftrag bittet er Wilhelm, er möge nach Heidelberg an den Professor Friedrich Creuzer oder an den Verleger Zimmer schreiben, daß die bereits versprochene Rezension von Hammers „Fundgruben des Orients" (Wien 1810 bis 1819, 5 Bände) möglichst bald in den Heidelberger Jahrbüchern erscheine. Auf dem Wiener Kongreß ist ein Franzose mit einer neuen Nibelungenhandschrift aufgetaucht, für die er jedoch 1000 Dukaten forderte. Jacob Grimm ist in fieberhafter Erregung. „Den Nibelungenkodex werd ich dieser Tage, schwerlich aber auf lang, bekommen. Schlegel hat die Varianten noch nicht daraus. Bloße Faulheit." Nach zwanzig vergeblichen Gängen bekommt er die kostbare Handsdirift endlich geliehen: „Ich durfte ehrlicherweise den ganzen ungedruckten Teil dieses Kodexes nicht abschreiben ... aber drei ganze Abenteuer hab ich abgeschrieben sowie alle Strophen nachgesehn upd die 48 neuen kopiert."

Bei den Wiener Buchhändlern sieht Grimm des „Clemens ,Libussa‘, die soeben fertig geworden ist“. Es ist dies „Die Gründung Prags. Ein historisch-romantisches Drama von Clemens Brentano“, die erste dramatische Bearbeitung des Libussastoffes durch einen deutschen Dichter, wobei die ganze slawische Mythologie der Tschechen verarbeitet wurde. Diese tiefsinnige Dichtung hat auch nachdrücklich auf Grillparzer eingewirkt, in dessen „Libussa“ sich viele, oft wörtliche Anklänge an Brentano finden. Ein weiteres Werk von Brentano entdeckt Grimm in den Wiener Friedensblättern (1815): „Brentano hat seine Erzählung von der ,Friedenspuppe‘... nur gegen Bezahlung eines Honorars verabfolgt, welches bei dem geringen Abwurf die Herausgeber vermutlich aus ihrer Tasche zahlen.“ Die „Schachtel mit der Friedenspuppe“ war ein ganzes Jahrhundert verschollen und wurde erst im Jahre 1920 von Josef Körner wieder entdeckt und in Buchform herausgegeben.

Jacob Grimm selbst hat in Wien für ein nicht leicht absetzbares Werk einen Verleger gefunden, und zwar für seine „Spanischen Romanzen", die bei der noch heute bestehenden Mayerschen Buchhandlung in der Singerstraße herauskamen. (Silva de romances viejos publicada por Jacobo Grimm. Vienna de Austria en casa de Jacobo Mayer y Comp. 1815.) Das Buch war Görres gewidmet, für dessen „Rheinischen Merkur“ Jacob Grimm zahlreiche politische Korrespondenzartikel über den Wiener Kongreß verfaßte. Jakob Mayer hat noch eine zweite Schrift von Grimm verlegt, „Irmen- straße und Irmensäule“, eine mythologische Abhandlung (Wien 1815), ein kleines Werklein, aber ein kostbares Juwel. Grimm stand sich mit seinem Wiener Verleger sehr gut: „Es sind hier sonst noch brave Leute; die Mayersche Buchhandlung, welche mein spanisdies Buch verlegt, hat uns neulich um Überlassung unserre ,Lokalsageh‘ (gegen Honorar) gebeten. Steht aber noch billig im weiten Feld.“ Der erste Band dieser Sagen ist 1816 in Berlin erschienen.

Der Wiener Kongreß wurde durch die Rückkehr Napoleons förmlich gesprengt. Am 6. März 1815 berichtet Jacob dem Bruder: „Napoleon ist bei Antibes abgewiesen, bei Cannes gelandet und marschiert gegen Grasse und Grenoble.“ Was haben die Wiener gemacht? Einen Witz haben sie gemacht. Am 22. März schreibt Grimm: „Als Probe eines Wiener Witzes von voriger Woche bei der ersten Nachricht:

In dergleichen sind sie hier nicht unstark.“ Die kleine kurhessische Gesandtschaft ließ sich keine grauen Haare wachsen. Als Graf Keller und Jacob Grimm Ende Juni 1815 ihre Koffer packten, war die Herrlichkeit der Hundert Tage und die Schlacht bei Waterloo schon vorüber.

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