6694161-1962_51_04.jpg
Digital In Arbeit

JEAN DE BOURGOING / NOBLESSE OBLIGE

Werbung
Werbung
Werbung

Nationalisten aller Schattierungen haben es immer als ein Manko angesehen, wenn sich unter ihren Vorfahren Angehörige fremder Nationen befanden. Durch gesteigerten Chauvinismus suchten sie diesen „Fehler“ zu kompensieren. Jean de Bourgoing, der berühmte österreichische Historiker, der am 30. Dezember d. }. das 85. Lebensjahr erreicht, hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er sich glücklich preise, zwei Nationen anzugehören.

Väterlicherseits ist Jean de Bourgoing Franzose. Das uralte Geschlecht, dem er entstammt, diente dem französischen Vaterland in allen seinen Sfaatsformen. Seine Angehörigen waren Diplomaten und Offiziere der Bourbonen, des ersten und zweiten Kaiserreichs, der ersten und dritten Republik. Und wer etwas die Kirchengeschichte Frankreichs kennt, dem wird auch der Name des pere Francois Bourgoing dritten Oberen der französischen Oratorianer, der diesen Orden in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu Beginn des Jansenistenstreikes regierte, nicht unbekannt sein. Mütterlicherseits ist Jean de Bourgoing Österreicher und durch seine Mutter, eine geborene Gräfin Kinsky, mit dem gesamten Hochadel der alten Monarchie verwandt.

Jean de Bourgoing, Angehöriger zweier Nationen, verwandt mit der Noblesse Frankreichs und Österreichs, ist wie kein anderer prädestiniert, sich gerade mit jenem Teil der Geschichte Frankreichs und Österreichs zu beschäftigen, der durch die französische Revolution und die napoleonischen Kriege erschüttert und geformt wurde. Niemand anderer konnte ein solches Verständnis für den Zusammenbruch des- Ancien-Rigimes, für das Entstehen neuer Kräfte und neuer Ordnungen aufbringen wie Jean de Bourgoing, der Erbe vieler Geschlechter. Seine Abstammung als Franzose und als Österreicher befähigten ihn insbesondere, grundlegende Forschungen über jene historische Persönlichkeit zu leisten, die, wie er selbst, ein halber Franzose und ein halber Österreicher war: über den Herzog von Reichstadt.. Seine diesbezüglichen Bücher (erwähnt seien nur „Le fils de Napoleon“, „Autour du duc de Reichstädt“, „Die Tagebuchblätter des Freiherrn von Moll“ sowie die kommentierte Ausgabe des Prokesch-Osten-Buches über den Herzog von Reichstadt) werden immer Standardwerke der historischen Forschung bleiben. Von dieser Zentralfigur seiner Forschung aus wandte sich Jean de Bourgoing der Geschichtsschreibung über die Mutter des Herzogs von Reichstadt, der Kaiserin Maria Luise, spätere Herzogin von Parma, sowie dem Wiener Kongreß zu. Auch das Werk über Maria Luise zu schreiben war nicht einfach. Denn viele heikle Dinge waren hier zu berühren und aufzuhellen. Dies konnte nur geleistet werden, dank der Noblesse, die dem Autor angeboren ist. Dank dieser Noblesse war Bourgoing auch wie kein anderer berufen, ein weiteres Thema der Geschichte durchzuführen: die Herausgabe der Briefe Kaiser Franz Josefs an Katharina Schratt. Er hat mit diesem Werk nicht nur der Geschichte einen großen Dienst erwiesen, sondern auch die Gestalt Kaiser Franz Josefs in einem neuen Licht erscheinen lassen, das die so noblen und einfachen Züge dieses Kaisers, die so oft hinter seiner majestätischen Gestalt verborgen sind, aufzeigt. Überflüssig zu sagen; daß Bourgoing auch ein großer Kunstkenner ist, wovon seine Bände über Füger und die Miniaturmalerei Zeugnis ablegen.

Auf eine reiche Ernte kann Jean de Bourgoing an seinem 85. Geburtstag blicken. Doch der Unermüdliche schreitet rastlos weiter in seinen Arbeiten: ein neues Buch über den Herzog von Reichstadt ist geplant, und in Kürze werden seine Lebenserinnerungen in Buchform vorliegen. Über allen seinen Werken aber könnte als Leitspruch das französische Sprichwort stehen: Es genügt nicht, die Wahrheit zu sagen, man muß sie auch höflich sagen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung