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Die Anschaffung steht der eines PKW an Aufwand und sozialer Tragweite nicht nach.

Als die Geburt unseres ersten Kindes näher rückte, häuften sich die Fragen besorgter Freunde und Verwandter, ob wir schon einen Kinderwagen gekauft hätten. Warum alle Welt ausgerechnet nach dem Kinderwagen fragte und nicht, sagen wir, nach dem Wickeltisch oder dem Babybett, war uns ein Rätsel, und wir reagierten stets achselzuckend: "Na, wieso?" Doch irgendwann ermüdete uns die Fragerei. Um ihr ein Ende zu bereiten, begaben wir uns in eine Shoppingmall südlich der Stadt, wo einer der großen Babyfachmärkte seine Zelte aufgeschlagen hatte.

Das Geschäft bestand aus einer riesigen Halle, in der sich, soweit das Auge reichte, ein Kinderwagen an den anderen reihte. Eine ganze Armee von Kinderwagen, mindestens ein Bataillon. Wohin sich wenden, wo beginnen? Wir waren völlig überfordert. Zum Glück war es noch früh am Samstagvormittag, und so eilte uns gleich ein halbes Dutzend diensteifriger Fachverkäuferinnen zur Hilfe.

Was ist ein Kinderwagen?

Bis zu diesem Moment hatte ich geglaubt, eine klare Vorstellung von dem zu haben, was ein Kinderwagen ist: ein Gestell mit vier Rädern unten, einer Art Wanne oben und hinten einem Bügel zum Schieben, ein Ding also, das aufgrund seiner Einfachheit nur wenig Spielraum für Variation und Gestaltung bietet. Nun lernten wir, dass man drei und vier-, ja sogar sechs- und achträdrige Kinderwagen unterscheidet, je nach Bedarf mit festen oder schwenkbaren Reifen, die wiederum groß oder klein, aus Plastik oder Gummi, mit oder ohne Luftkammern und oder Federung versehen sein können. Nicht minder war die Vielfalt an Bügeln: Es gab schwenk-, höhenverstell- und um 360 Grad drehbare, zweigeteilte, ergonomisch geformte, extra weiche, wahlweise mit Kunststoff-oder Lederbezug versehene und welche mit integrierter Seilzugbremse. Auch was den eigentlichen Container für das Kind angeht, war die Evolution nicht bei der primitiven Wanne meiner Kindheit stehen geblieben. Kluge Eltern kaufen einen Kombi-Kinderwagen, erklärte die Verkäuferin, auf den sich erst eine Tragtasche für den Säugling, auf Wunsch ein Softbag, später ein Sportsitz für das Kleinkind und bei Bedarf auch der Maxi Cosi, also der Schalensitz fürs Auto, setzen lassen. Unnötig zu sagen, dass die verschiedensten Modelle an Tragtaschen und Sportsitzen zur Auswahl standen.

Von dieser Fülle an Input völlig überfordert, fragte ich kurzerhand die Verkäuferin, welchen Kinderwagen sie uns denn empfehlen würde. Das könne sie so nicht sagen, es käme auf unsere Bedürfnisse an. Ob wir auf dem Land oder in der Stadt lebten, in welchem Stockwerk sich unsere Wohnung befände, über wieviel Abstellplatz wir verfügten, ob wir mit dem Kinderwagen öffentliche Verkehrsmittel benützen und, nicht zuletzt, wieviel Geld wir investieren wollten. Ein guter Kinderwagen sei für sechshundert Euro zu haben, unentbehrliches Zubehör wie Fußsack, Regenschutz und Sonnenschirm nicht eingerechnet.

Angebot unüberschaubar

Konfrontiert mit einem unüberschaubaren Angebot neige ich beim Einkaufen zu einem gewissen Dezisionismus, während meine Frau rationale Kaufentscheidungen anstrebt, indem sie sich größtmögliche Markttransparenz verschafft. Mithin zogen wir nach einem mehrstündigen Beratungsgespräch ohne Kinderwagen, aber beladen mit einem Stapel Hersteller-Prospekte von dannen. Wie die Verkäuferin empfohlen hatte, versuchten wir uns zunächst über unsere Bedürfnisse beziehungsweise, was noch viel schwieriger war, die eines ungeborenen Kindes zu verständigen.

Kaum hatten wir diesbezüglich Klarheit und Konsens erzielt, wartete die nächste Ernüchterung auf uns: Unter den hunderten verschiedenen Kinderwagenmodellen mit ihren kombinierbaren Features war kein einziger, der unseren besonderen Anforderungen zu entsprechen schien. Oder aber die Information in den zu Rate gezogenen Prospekten reichte nicht hin, um unsere Fragen zu beantworten, etwa die, ob der Kinderwagen in den Kofferraum unseres Autos passen würde. Die Hersteller ergingen sich zwar in liebevollen Beschreibungen der saisonalen Stoffmuster und Farben oder vielmehr "Dessins", aus denen der Kunde wählen kann. Angaben zu Packmaßen und Leergewicht mussten wir hingegen lange suchen: Solch prosaische Daten haben in Hochglanzbroschüren wohl nichts verloren. Also blieb uns nichts übrig, als eine engere Auswahl von Modellen selbst in Augenschein zu nehmen.

Entnervende Einkaufstour

Nun begann eine mehrwöchige Odyssee durch diverse Fachgeschäfte, denn selbst die bestsortierten Läden führten nicht alle Marken, und die Öffnungszeiten der kleineren Familienbetriebe waren nicht selten so, dass meine Frau und ich nur einen einzigen Termin in der Woche fanden, wo wir beide gleichzeitig dorthin fahren konnten. Es waren kurze Zeitfenster von einer halben oder einer Stunde, mühsam von der Arbeitszeit abgespart, nicht selten in den Mittagsstunden. Proportional zur Höhe des Zeitdrucks sank die Laune. In jenen Wochen stand unsere Ehe mehrfach auf der Kippe.

Astronomische Preise

Besonders frustrierend war es, wenn sich ein Laden als totaler Reinfall entpuppte. Ich erinnere mich an das etwas beengte Kellergeschoß eines namhaften Babyausstatters im ersten Wiener Bezirk, wo auf verschlissener Auslegeware, zwischen schmutzigen Wänden ein paar dutzend Kinderwagen herumstanden, deren Design ebenso astronomisch anmutete wie ihre Preise, dazwischen Flachbildschirme, die ihre Benützung veranschaulichen sollten. Wir sahen schlanke, modisch gekleidete Mütter mit Kinderwagen durch neue Architektur und über Sandstrände spazieren, und da begriffen wir, dass sich Kinderwagen nicht nur in ihrer Funktionalität, sondern wie Handtaschen oder Sonnenbrillen auch im Image unterscheiden, das sie ihrem Benutzer verleihen. Junge Eltern, die sich ein gewisses Flair von Urbanität und Hipness anheften wollen, kommen um einen Kinderwagen der Marken "Bugaboo" oder "One Tree Hill" nicht herum. Die Hersteller wissen das und legen logischerweise beim Preis ordentlich drauf.

Der Kauf eines Kinderwagens steht mithin der Anschaffung eines PKWs an Aufwand und sozialer Tragweite nicht nach, zumal die Lieferzeiten für manche Marken an jene heranreichen, die einst Bewohner des Ostblocks auf ihre Trabants, Ladas und Škodas warten durften. Das mussten wir erfahren, als wir uns endlich für ein Modell entschieden hatten und die Bestellung aufgeben wollten. "Sind Sie sich sicher?", fragte der Verkäufer: "Das kann bis zu zwölf Wochen dauern. Wenn Ihr Putzerl früher kommt, haben Sie ein Problem."

Am Ende ist es sich fast auf die Stunde genau ausgegangen: Ausgerechnet an dem Tag, nachdem ich den Monate zuvor bestellten Kinderwagen vom Händler abgeholt hatte, ist spätabends unsere Tochter auf die Welt gekommen. Es handelt sich übrigens um das Qualitätsprodukt einer deutschen Firma, das auf den Namen "Fun System 07" hört und sowohl durch seine technische Ausgereiftheit als auch sein ästhetisches Understatement besticht.

Heute weiß ich: Wie jeder neue Lebensabschnitt definiert sich auch der Beginn des Eltern-Daseins in erster Linie durch eine tief greifende Änderung des Konsums. Ein Mann begreift erst, dass er Vater wird, wenn er nicht mehr vor den Schaufenstern von Autohändlern, Sex-Shops oder Hifi-Läden in Kontemplation versinkt, sondern unwillkürlich vor den Auslagen von Baby-One, Baby-Walz, Baby-World & Co. stehen bleibt. Ob es jedoch einen statistischen Zusammenhang zwischen dem wachsenden Angebot an Baby-Produkten, dem dadurch bedingten Konsumstress und der sinkenden Geburtenrate gibt, muss noch wissenschaftlich überprüft werden.

Konsumstress total

Im übrigen ist der Kinderwagen nur ein symptomatisches Beispiel für den Stress, den die explodierende Warenwelt uns Konsumenten abfordert. Neulich ist mein altgedientes Mobiltelefon hinuntergefallen, und jetzt ist das Display so beschädigt, dass der Kauf eines neuen wohl unausweichlich wird. Eine erste Sondierung des Marktes via Internet hat mich belehrt, welche beeindruckenden Fähigkeiten diese kleinen Geräte inzwischen besitzen: Man kann mit ihnen fotografieren, Musik und Radio hören, E-Mails verschicken, den Arbeitstag planen und mitunter sogar - telefonieren! Ich habe sogar rasch ein Modell entdeckt, das meinen Bedürfnissen optimal zu entsprechen scheint: nutzerfreundlich und langlebig, aber ohne Schnickschnack. Doch wie ich von mehreren Händlern gehört habe, wird es leider nicht mehr hergestellt. Was also tun? Durch die Komplexität der anstehenden Kaufentscheidung gelähmt, werde ich mich wohl weiterhin mit dem ramponierten Gerät behelfen.

Mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass gerade die einfachsten Bedürfnisse in unserer bunten Warenwelt am schwierigsten zu befriedigen sind. Wann, frage ich mich, wird endlich der Beruf des Konsumberaters erfunden?

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