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Die Wolke

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Es war einmal eine Wolke, die in jedem Jahr über die Gärten zog, wenn die Früchte an den Bäumen reif wurden. Der Gärtner wußte den Tag genau, an dem die Wolke wiederkehrte, in jedem Jahr neu und doch wieder dieselbe. Der Herr, dem das viele Obst gehörte, das er in die Hand nahm, jeden Herbst und zu anderen Zeiten im Jahr, meinte, es sei unnütz, in den Himmel zu schauen, wie der Gärtner alle Jahre tat. So wußte er kaum, daß die Wolke für ihn da sei.

Wenn der Wind den Schimmer der Wolken über den Tag zog wie die Pferde den Wagen, hing der Mann im Garten, der Diener des Herrn, mit seinem Gesicht an ihnen. Es glänzte im Schein seltsam groß auf. Sein Herz war in einer anderen Welt, die keiner kannte, die jedem fremd und weit lag. Derselbe Himmel, der über der Welt lag, der jedem Gesicht und Herzen bestimmt war und gegeben wie Mund und Augen, diesen Himmel erkannte der Herr nicht. Die Herren haben ihren Himmel im eigenen Haus. Und sie machen Musik und mit tausend Leuchtern Helle dazu. In der Hütte des Gärtners brannte kein Licht. Wenn kein Stern schien, war seine Stube erloschen. Er kannte Tag und Nacht, die ihm im Herzen wohnten, das ganze Jahr hin.

Da kam ein Herbst ohne Wolke und Frucht. Der Baum stand wie ein lecker Krug leer. Da fragte der Herr den Diener, als ihn gelüstete, von Früchten zu essen, und keine da waren, warum der Garten ohne Äpfel dastehe. Da wies der Gärtner beschämt und schweigend zum Himmel, wie zu einer Stirn ohne Krone: die Wolke.

Da sah der Herr, wie der Himmel leer war, ohne Glänzen, wie im großen Garten der Baum; daß der Regen hinter der grauen Ferne verbraucht war, als hätte ihn ein anderer zum Geschenk erhalten; daß der Baum dürr nach der Feme Ast um Ast reichte, wie bittend um ein Lächeln daraus; das schaute er lange. Er schaute ohne Ende, wie die Äste fein und ohne Saum im Himmel aufhörten. Sein Gesicht kehrte heim mit dem Zweig in die Heimat ohne Grenze, wie ein müder Wanderer in die letzte Hütte zur Rast tritt. Wenn in seinem Haus die tausend Leuchter wie ein heller Himmel erglühten, schaute der Herr durch das Geäst der Leuchter beschämt und schweigend — wie ihn der Gärtner angeschaut hatte — in den Himmel der Welt, ob die Wolke wiederkehre in ihm. Er war hungrig nach ihr, wie nach dem Apfel.

Im nächsten Jahr schenkte der Herbst den Apfel wieder, mit dem er im ersten ausgesetzt hatte.

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