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SPÄTE CHRYSANTHEMEN

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Ich war damals in der Lehre bei einem Gärtner im Dorfe Komerau in der Nähe von Troppau in Mährisch-Schlesien. Der Gärtner war allerdings ein sehr nationalbewußter Tscheche und nannte — so wie der übrige tschechische Teil der Bevölkerung dort — unser Dorf Komarov und die Stadt Opava. Der Gärtner war ein überzeugter Hussit und lehrte mich Grabkränze anfertigen, auf denen der Hussitenkelch mit Blumen ausgesteckt war. Außerdem glaubte er an weiße Magie, Vegetarismus und Astrologie, in welch letzterer Eigenschaft er Horoskope auf Bestellung anfertigte.

Allerheiligen war schon vorbei; aber wir hatten noch immer viele Chrysanthemen im Glashaus, und so hatte mich der Gärtner mit einem Handwagenvoll nach Troppau auf den Markt geschickt, wo ich sie auf dem zum Stand adaptierten Wagen feilhielt. Es war weder Wochenende noch sonst ein besonderer Anlaß, und so verkaufte ich nur wenige von den Chrysanthemen. Außerdem war mir kalt, und ich hatte Zahnschmerzen. Wohl hatte der Gärtner gesagt, ich müsse den Schmerz bis ins innerste Ende des Zahnnervs verfolgen und ihm sagen: „Du hörst jetzt auf, weh zu tun.“ Aber anscheinend wollte sich der Nerv nichts von mir sagen lassen.

Frau Breda, vom Warenhaus Breda & Weinstein, kam in einem Pelz, der sie noch dicker machte, an dem Stand vorbei. Hinter ihr ging das Dienstmädchen mit zwei vollbepackten Einkaufstaschen. Frau Breda zeigte mit dem Lorgnon auf die Blumen und fragte: „Wie viel die Chrysanthemen?“ Ich nannte den Preis. Sie sagte: „So viel haben sie schon zu Allerheiligen gekostet“, und ging weiter.

Die Marktfrauen, dachte ich mir, die haben es gut. Sie sitzen da über diesen Pfannen mit Holzkohlenfeuer und frieren nicht. Bei einem jungen Burschen ging das natürlich nicht. Der Gärtner kam, sein Fahrrad neben sich herführend. Er trug eine große Mappe unterm Arm. Darin hatte er immer die Horoskope, die er für die Leute anfertigte. Er warf einen verdrossenen Blick auf die Chrysanthemen. Ich erzählte ihm, daß Frau Breda wieder den Preis zu hoch befunden hatte. „Wie ein Geier ist sie“, sagte der Gärtner zornig, „aber ehe ich meine Blumen als Ramsch verkaufe, werfe ich sie lieber auf den Kompost“. Ich wunderte mich, daß der Gärtner, als weißer Magier, sich über solche Dinge aufregte. „Fahr gleich nach Haus, wenn der Markt aus ist“, sagte er, „ich habe noch in der Stadt zu tun.“ Er war darüber erhaben, mir zu erzählen, daß er Horoskope ausliefem ging. „Mein Zahn ist noch immer nicht gut“, sagte ich schüchtern. „Sicher hast du nicht richtig an den Nerv gedacht“, sagte der Gärtner ärgerlich. „Könnte ich ihn mir nicht bei den .Barmherzigen Brüdern1 ziehen lassen?“ fragte ich. „Natürlich nicht!“ sagte er empört. „So ein blutiger Eingriff ist gegen die Natur! Pro- bier’s nur weiter mit dem Konzentrieren.“ Dann stieg er aufs Fahrrad und fuhr weg.

Einzelne Schneeflocken fielen auf den Marktplatz. Wenn richtiger Schnee kommt, dachte ich mir, dann brauche ich morgen nicht auf den Markt fahren und kann im warmen Treibhaus sitzen.

Es schneite tatsächlich während der ganzen Nacht, und am Morgen konnte man nicht mehr mit dem Handwagen nach Troppau fahren. Trotzdem war es nichts mit dem Sitzen im Treibhaus. Der Gärtner packte Zwei große Fiberkoffer voll mit Chrysanthemen und sagte: „Damit fährst du jetzt nach Ostrau und gehst in die Blumengeschäfte. Mir hat heute Nacht von Dreck geträumt, das bedeutet Geld, ich würde sie sicher verkaufen, aber ich kann ja nicht weg.“ Wieder Horoskope, dachte ich. Er gab mir noch Geld für eine Mahlzeit und für die Fahrt. „Und vergiß nicht, den Leuten richtig in die Augen zu schauen, wenn du ihnen die Blumen anbietest!“ sagte er. „Wenn du richtig schaust, müssen sie einfach kaufen.“

Im Eisenbahnwaggon war es warm, und eine Strohmatte lag auf dem Boden wie ein Teppich. Auch das Zahnweh war besser. In Svinov, das eine Vorstadt von Ostrau ist, stieg ich in die Straßenbahn um und fuhr in die Stadt hinein. Dort ging ich in den ersten Blumenladen. Das Geschäft war voll mit Chrysanthemen und, wie mir schien, mit viel schöneren, als den meinigen. Ich sah dem Besitzer sehr in die Augen, aber er verzog trotzdem nur einen Mundwinkel, daß sich sein dünner, weißer Schnurrbart schief hob und sagte: „He, he, ich wär’ froh, wenn ich die meinigen schon los wär’. Aber geh zur Frau Synek in der Dlouha, vielleicht braucht die welche.“

Frau Synek war eine liebe dicke Frau, mit einer Nase so läein, wie ein Knopf. Sie sagte: „Wer kauft jetzt noch Chrysanthemen, mein Kleiner? Ist dir etwas ins Auge gefallen?“ Ich rieb mir nämlich ein Auge, damit sie nicht bemerke, daß ich sie so angeschaut hatte, damit sie mir etwas abkaufe. „Nein, nein“, sagte sie, „vor Allerheiligen hättest du kommen müssen. Für die Toten ist ihnen nichts zu teuer. Aber für sich selber, da denken sie nur an Wurst und Speck. Hie und da, daß ein Liebhaber seinem Mädel ein paar Blumen kauft, aber das tun sie auch nur beim ersten Rendezvous. Und außerdem wollen sie keine Chrysanthemen, weil die nicht riechen, und kaufen Glashausveilchen, die auch nicht riechen. Früher haben die Lebemänner Chrysanthemen im Knopfloch ihres Fracks getragen, aber das ist jetzt nicht mehr Mode. Außerdem gibt es keine Lebemänner mehr. Wenigstens nicht mit Fracks. Und die anderen Leute hier in Ostrau, die Berg-

arbeiter und so, die kaufen sich Papierblumen, weil die das ganze Jahr halten.“

Mittagmahl aß ich im Restaurant von Batas Schuhwarenhaus: Kuttelflecksuppe und Geselchtes mit Kraut und Knödel und Marmeladeschnitten. Ich kam mir erwachsen und unabhängig dabei vor. Durch die breiten Glasfenster konnte man auf die Straße hinuntersehen, auf die neuer Schnee fiel, der den Ostrauer Kohlenstaub zudeckte. Auf einmal bemerkte ich, daß ich geschlafen hatte. Draußen war es schon dunkel, und wenn ich mich nicht beeilte, sperrten die Blumenläden zu. Zwei waren noch offen, aber auch dort wollten sie nichts kaufen. Im zweiten Laden fragte die Frau: „Bist du nicht schon heute hiergewesen?“ Ich kam am Eingang eines Kohlenbergwerks vorbei. Die befinden sich in Ostrau mitten in der Stadt. Ich dachte mir, daß es ganz schön wäre, meine Chrysanthemen links und rechts vom Grubeneingang in den Schnee zu stecken, damit die Arbeiter, wenn sie von der Schicht kamen, glaubten, die Blumen wären aus dem Schnee gewachsen. Aber dann fand ich, daß zuviel Schlacke und Abfall herumlag, als daß irgend jemand etwas bemerkt hätte. Die Handgelenke taten mir vom Tragen der Koffer weh, und in die Schuhe war mir Schnee eingedrungen, der zuerst kalt war und dann Wasser. Außerdem wurde es spät, und so fuhr ich wieder mit der Straßenbahn nach Svinov. Über Witkowitz war der Himmel rot vom Feuer der Hochöfen, und der Schnee sah aus wie rosa Gefrorenes.

In Svinov war noch Zeit für den Zug nach Komorau, und so setzte ich mich ins Bahnhofrestaurant dritter Klasse. An den breiten Holztischen saßen Bergarbeiter, die von der Schicht gekommen waren und Soldaten der tschechoslowakischen Armee mit ihren schwarzen Holzköfferchen, auf denen ihre Namen weiß gemalt waren. Ein slowakischer Wanderhändler ging mit seinem Bauchladen herum. Polnische Zuckerrübenarbeiter lagen mit ihren Bündeln und Harken in einer Reihe auf dem Bretterboden an der Wand und schliefen. Ein paar Soldaten begannen zu singen, hörten aber bald wieder auf. Ich trank Tee, die Kellnerin hatte mir Rum hineingegossen, obwohl ich den nicht bestellt hatte. Es ging wohl nicht, deshalb den Tee zurückzuschicken. Mir wurde sehr warm von dem Rümtee, und ich wurde sehr gut aufgelegt. Als die Kellnerin wieder bei mir vorüberkam, gab ich ihr drei Chrysanthemen. Sie war sehr überrascht und sagte: „Herrje, ist das scheen!“ Eine der Blumen steckte sie sich an den Busen, die anderen stellte sie in ein Weinglas, aber nicht auf einem Gasttisch, sondern in einer Ecke der Ausschank, wo sie ihre Rechnungsblocks und anderen Sachen aufbewahrte.

Der Stationsportier steckte den Kopf zur Türe herein und schnarrte einen langen Satz, den ich nicht verstand. Auf dem Perron draußen ging das Licht an, und auf einem Karren wurden Postsäcke und Pakete vorbeigefahren. Wohin die wohl in die Welt geschickt wurden? Ein langer Zug fuhr mit viel Bremsengequietsche und Gezische ein. Auf den Wag- gonschildern stand: „Expreß Warschau—Oderberg—Wien— Basel—Paris.“ Ich ging mit meinen Koffern die Waggons entlang und tat, als wäre es mein Zug. Ich hätte gern laut gerufen: „Ich habe eine Fahrkarte, ich muß sofort einsteigen, sonst versäume ich den Zug, und ich muß doch nach Paris, ich habe dort dringend zu tun, etwas mit Chrysanthemen, hoffentlich gibt es keine Zolischwierigkeiten an der Grenze.“ Doch der Zug stand da, schnaubend und zischend, sonst aber verschlossen und unzugänglich wie eine Festung, die Fenster verhängt und dunkel. Niemand in den finsteren Waggons kümmerte sich um Ostrau und Svinov und um mich und meine Chrysanthemen. Und als die Eisenbahner mit langstieligen Hämmern gegen die Räder des Zuges schlugen, klang es ganz hart, als sagte der Zug: „Und das sind ausschließlich meine eigenen Angelegenheiten.“ Er fuhr bald wieder weg, als bemühe er sich, den Aufenthalt so schnell wie möglich zu vergessen.

Auf einem abseitsgelegenen Bahnstrang stand bereits wartend mein eigener Zug mit seinen bescheidenen Holzwaggons. Kurz vor der Abfahrt kam noch ein Rudel Kohlenklauberinnen gelaufen. Daß sie das waren, erkannte man an ihren schwarzen Gesichtem und groben, rissigen Händen. Sie schnatterten voll vergnügter Aufregung ob des fast versäum- ten und doch noch erreichten Zuges. Sie knüpften ihre verrutschten Kopftücher aufs neue und hielten die Zipfel dabei ftift deri Zähhen fest. Einige äßen ie letzten Rest'e Mundvorrats oder naschten von den Lebensmitteln, die sie in der Stadt für den Haushalt eingekauft hatten. Eine der Frauen bot mir mit der gleichen Hand, in der sie noch das Messer hielt, eine abgeschnittene Wurstscheibe an und dann ein Stück Brot, und sagte: „Na nimm schon; ihr Mannsbilder habt ja immer Hunger!“ Ich fühlte mich sehr geehrt, daß sie mich ein Mannsbild nannte. Da wir nun fuhren, wärmte die Dampfheizung das Abteil und auch vom Tee mit Rum war mir noch immer hübsch warm und leicht zu Mut. Ich öffnete den Koffer und nahm eine Chrysantheme heraus und bot sie der Frau als Gegengeschenk für die Wurst an. Die anderen riefen Ah! und Oh!, und so schenkte ich auch ihnen von den Blumen. Sie drängten sich um mich, und ich reichte ihnen ohne Hinschauen buschenweise die Blumen aus dem offenen Koffer auf meinen Knien. Auf einmal war der Koffer leer. Als die Mädchen und Frauen ausstiegen, alle zusammen, wie sie gekommen waren, gab mir die zuerst Beschenkte zum Abschied einen Kuß auf die Nasenspitze.

Bisher war die Fahrt wie ein Fest gewesen, jetzt meldete sich das Zahnweh wieder. Ich ging durch den Zug und hätte gerne noch Blumen hergeschenkt. Es waren aber nur noch ein paar ältere stoppelbärtige Männer da, und denen konnte ich schwerlich Blumen anbieten. In Komorau war ich der einzige, der ausstieg. Ich ging am Stationsgebäude und am Frachtschuppen vorbei, und der wenig eingetretene Schnee knirschte unter meinen Füßen. Der eine Koffer zog an meinem Handgelenk, aber der andere, leere, trug sich wunderbar leicht

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