Annie Ernaux: Außenwelten der Innenwelt
Der Nobelpreis für Literatur geht dieses Jahr an Annie Ernaux. Die Französin ist vor allem für ihre autofiktionalen Werke berühmt. Weniger bekannt sind ihre unübersetzten Journale.
Der Nobelpreis für Literatur geht dieses Jahr an Annie Ernaux. Die Französin ist vor allem für ihre autofiktionalen Werke berühmt. Weniger bekannt sind ihre unübersetzten Journale.
Welchen Satz stellt man einem Buch als Motto voran? Seit Jahrzehnten macht sich die frisch gekürte Nobelpreisträgerin Annie Ernaux Notizen zu dieser komplexen Wahl. Ihre Reflexionen sind, penibel datiert, in dem Buch „L’atelier noir“ nachzulesen (ergänzte Neuauflage 2022 bei Gallimard). Unter all den Beispielen findet sich der folgende Satz: „Notre vrai moi n’est pas tout entier en nous“. Es handelt sich um ein verkürztes Zitat von Jean-Jacques Rousseau und meint, dass unser wahres Ich nicht ausschließlich in uns steckt, sondern dass es stets auch ein „kollektives“, ein soziales ist.
Diese gesellschaftliche Perspektive der eigenen Existenz stellt seit je eine wesentliche Komponente im autofiktionalen Werk von Annie Ernaux dar. Neben ihrer – als paradigmatisch für eine Ära präsentierten –
Lebensgeschichte rückt die Autorin mitunter aber auch die „Außenwelt“ in den Fokus ihrer Werke. Zwei davon wollen wir hier vorstellen.
Bestürzung, Ärger und Schmerz
Besagtes Rousseau-Zitat liefert das Motto für ihr 1993 erschienenes, noch nicht auf Deutsch vorliegendes „Journal du dehors“. Das von 1985 bis 1992 geführte Journal der „Außenwelt“ enthält Szenen und Gesprächsfetzen, die Ernaux in der R.E.R. (Schnellbahn, die Paris mit den Vororten verbindet; Anm. d. Red.), in Métro-Stationen oder im Einkaufszentrum erhascht hat. Auf diese Weise, erklärt sie, habe sie etwas von der Epoche und jenen Leuten festhalten wollen, denen sie gerade einmal begegne, die in ihr aber Bestürzung, Ärger oder einen Schmerz auslösten.
Die Autorin lebt seit Mitte der 1970er Jahre in Cergy-Pontoise, einer sogenannten Ville Nouvelle (Planstadt) 30 Kilometer nordwestlich von Paris. Wer und was genau erweckt nun ihre Aufmerksamkeit, bewegt sie so nachhaltig, dass sie den Notizblock zückt? Da sind zunächst einmal die schriftlichen Botschaften im öffentlichen Raum, zum Beispiel die Graffiti an einer Parkplatzmauer. „DEMENZ“ steht da zu lesen, und ein Stück weiter: „ICH LIEBE DICH, ELSA“, beziehungsweise „IF YOUR CHILDREN ARE HAPPY THEY ARE COMUNISTS“. In der Pariser R.E.R.-Station Charles-de-Gaulle wiederum fällt ihr Blick auf einen verwaisten, von den Passanten gemiedenen Kreidekreis mit der eingeschriebenen Bitte um Almosen „Fürs Essen. Ich habe keine Familie“.
Große Beachtung schenkt die Autorin auch dem Gehörten, ob es sich nun um die Befehle eines Hundehalters, die „Vorlesungen“ einer Mutter aus dem Kinderbuch, einen hochtrabenden Galeristen handelt – oder um die Schattenexistenzen der Gesellschaft. Etwa der Blinde am Bahnhof Saint-Lazare, der mit mächtiger Stimme – voll falscher Noten – Edith Piafs „Je ne regrette rien“ schmettert oder Lieder, die man aus der Schule und Ferienlagern kennt. Fallen die Münzen klingend in den Trinkbecher, ruft er laut: „Vielen Dank und schönen Tag!“ Was Ernaux messerscharf kommentiert: Das perfekte Almosen. Für eine Münze an einen sauberen, würdigen Armen bekomme man öffentlichen Dank und die Hoffnung, sich den ganzen Tag die Gunst des Schicksals zu sichern. Dass sie selbst einen Bogen um die Szene macht, wie all jene, die nichts geben, verhehlt sie nicht. Dann wieder verfolgt sie ein Gespräch zwischen zwei Clochards, der eine aggressiv, der andere mit den guten Umgangsformen einer Welt, aus der er materiell ausgeschlossen ist. Letzterer lasse sie an einen verarmten Adeligen denken, der weiterhin zumindest den formvollendeten Handkuss vollziehe. Eine ganz andere Assoziation wecken die Bettlerscharen, die zu Silvester vor Großkaufhäusern oder in Métro-Stationen ihr „Bonne Année“ schmettern: Was, wenn diese Elenden sich auf die mit Taschen beladenen Passanten stürzten, um sich zu holen, was ihnen zustehe?
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