Gelände der Versehrtheit: Flüsse in Esther Kinskys Literatur
Sie sind schön, sie sind gefährlich: Flüsse faszinieren Esther Kinsky, sie sind ein wiederkehrendes Motiv in ihren Büchern. In „Tagliamento“ lädt die Autorin zu einem faszinierenden Streifzug durch die Flusslandschaft ein.
Sie sind schön, sie sind gefährlich: Flüsse faszinieren Esther Kinsky, sie sind ein wiederkehrendes Motiv in ihren Büchern. In „Tagliamento“ lädt die Autorin zu einem faszinierenden Streifzug durch die Flusslandschaft ein.
Der Rhein war der Fluss ihrer Kindheit: Esther Kinsky wuchs bei Bonn auf. Unvergessbar blieben die Streifzüge durch die Uferwildnis, das Übersetzen mit der Fähre, der Anblick vorüberziehender Lastkähne oder der Klang der Nebelhörner. Klein Esther spürte auch der „Schrift“ des Flusses nach, notierte systematisch Stromkilometer, Schiffsnamen oder die Zulassungsnummern von Kähnen. Aus alledem sollte sich später ein Leitmotiv im Werk dieser vielfach prämierten Schriftstellerin und Übersetzerin herausbilden.
Kinskys Interesse gilt der Bewegung und Unberechenbarkeit, dem Grenzcharakter und den Uferlandschaften von Flüssen. Wer bewohnt oder passiert ihre Saumzonen, welche Flora und Fauna sind da heimisch? Welche Geschichten und wie viel Geschichte tragen Flüsse mit sich, was verwässern oder verschleifen sie? Erinnerungen, Mythen und Rituale ergänzen diesen mit allen Sinnen geführten Erkundungsprozess.
Faszination Fluss
Als Schlüsselwerk dazu darf der stark autobiografisch grundierte Prosaband „Am Fluß“ (Matthes & Seitz 2014) gelten. „Wenn ich ,Fluss‘ dachte, kamen mir Panoramen, Ausblicke, Ansichten der Kindheit in den Sinn – Postkarten, die mir die Erinnerung schrieb“, heißt es darin. Die Erzählerin hat, wie die Autorin selbst, viele Jahre in London gelebt. Nun kehrt sie nochmals zurück, um Rückschau zu halten, „stets dessen eingedenk, dass nichts so sehr ins Ungewisse führt wie die Erinnerung“.
Von ihrem Quartier im Chassidenviertel Stamford Hill wandert sie den River Lea entlang bis zu dessen Mündung in die Themse. Die Lea bildet eine Grenzlinie im brüchigen, „ramponierten“ Osten der Metropole. Am einen Ufer Marschland und Industriebrachen, am anderen von Bauwut zerfressene Wildnisstreifen, „allem Schönen fremd“. Alte Infrastruktur bröckelt vor sich hin, verwildert, ehe sie der Gentrifizierung anheimfällt: eine Hunderennbahn, ein Jahrmarkt, eine palastähnliche Zündholzfabrik.
Auch Randexistenzen dieser Randzone rücken ins Blickfeld: der „König“ vom Springfield Park, die „Frommen“ in den koscheren Läden, Schausteller, eine Wahrsagerin, ein kroatischer Tandler. Große Heimatlose allesamt.
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