Esther Kinsky - © Foto: APA / Georg Hochmuth

"Rombo" von Esther Kinsky: Wenn die Erde seufzt

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Esther Kinskys grandioser neuer Roman „Rombo“ setzt dem verheerenden Erdbeben, das im Jahr 1976 das Friaul erschütterte, ein literarisches Denkmal.

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Esther Kinskys grandioser neuer Roman „Rombo“ setzt dem verheerenden Erdbeben, das im Jahr 1976 das Friaul erschütterte, ein literarisches Denkmal.

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Erdbeben bringen nicht nur Tod und Zerstörung, sie erschüttern den Glauben an einen gerechten, gütigen Gott. Bis in die Neuzeit galten sie als Strafe des Himmels. Erst ab der Aufklärung gewann die wissenschaftliche Lesart an Breite. Die große Zäsur im Katastrophendiskurs bildete das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755. Es forderte zigtausende Todesopfer – und es rüttelte am Optimismus der Aufklärung. Voltaire distanzierte sich von Leibniz’ Theodizee-Formel (Gott erschuf keine perfekte, aber die beste aller möglichen Welten) mit einem Lehrgedicht über das „Desaster von Lissabon“ und mit der Satire „Candide oder der Optimismus“. Rousseau konterte mit ­Zivilisationskritik, die Stadt sei zu dicht verbaut gewesen. Eine ähnliche Position vertrat Kant; sein Resümee: „Der Mensch muss sich in die Natur schicken lernen, aber er will, dass sie sich in ihn schicken soll.“

Mehr als zweihundert Jahre nach dem „Desaster“ von Lissabon – 1976 – bebte die Erde in Friaul-Julisch Venetien. Rund 1000 Todesopfer und 3000 Verletzte waren zu beklagen, 40.000 Menschen verloren ihr Obdach, viele Ortschaften wurden zerstört. Die sogenannte Naturkatastrophe (sie wird es erst durch kulturelle Zuschreibung) hatte keinen Philosophenstreit ausgelöst, noch war sie literarisch stark nachgehallt. Einzig die Kärntner Autorin Ursula Wiegele hatte das dramatische Ereignis aufgegriffen: Ihr Roman „Arigato“ erzählt die Geschichte eines Mädchens aus ­Venzone, das Zuflucht bei Verwandten in Villach findet. Der empfindsame Karstpilger Peter Handke hatte es bei einer Zeichnung des zerstörten Venzone belassen.

Nun setzt Esther Kinsky dem Beben von Friaul ein imposantes Denkmal. „Rombo“ heißt das kürzlich erschienene Prosawerk. Ein Auszug davon wurde schon vorab, mit dem 2020 erstmals vergebenen W.-G.-­Sebald-Literaturpreis, prämiert. Das lautmalerische Wort Rombo stammt aus Kalabrien. Es bringt das rollende unterirdische Geräusch zum Ausdruck, das einem Erdbeben vorangeht. Entgegen der vermerkten Genrebezeichnung erzählt Kinsky keinen Roman im klassischen Sinn. Vielmehr fügt sie Erinnerungen von Überlebenden, Schöpfungsmythen und lokale Sagen, ihre eigene, feinsinnige Dechiffrierung der Natur und
wissenschaftliche Quellen zu einem grandiosen Tableau.

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