Offener Brief an den sogenannten Weihnachtsmann

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Entbehrenswerter Herr!

Ich mache Dir nicht Deine schiere Existenz zum Vorwurf - beileibe nein! Bist Du doch eigentlich ursprünglich als "Santa Claus" ein zweites Ich des Bischofs von Myra, des Nikolaus, der bei uns am 6. Dezember die Kinder beschenkt.

Im nebeligen England wurden abends am 24. Dezember Strümpfe an den Kamin gehängt, damit Du durch den Schlot absteigend gute Sachen einfüllen konntest - ohne Dich schmutzig zu machen, wohlgemerkt, denn ein wenig wundersam durftest Du damals noch sein. Wundersam war auch Deine Fortbewegungsart - ein fliegender Rentierschlitten, den sich die Kinder Albions vor Deinem Haus irgendwo in der Gegend des Nordpols vorstellen durften.

Ein wenig weit weg vom warmen Myra war das schon, aber der mildtätige Bischof hat es wohl lächelnd hingenommen.

So durfte damals noch jedes Land sein kleines, individuelles Weihnachtsgeheimnis jedes Jahr neu entstehen lassen. Italien die Befana, Schweden die heilige Lucia, Österreich das Christkind und England eben Dich, den Santa Claus. Wenn Du Dich bloß nicht hättest kaufen lassen - alles hätte so schön, so geheimnisvoll, so zauberhaft bleiben können!

Doch was bist Du geworden? Ein fetter Alter mit aufgeklebtem Rauschebart und rotweißer, von einem Getränkekonzern sozusagen "normierter" Uniform. Deine rotgeschminkten Bäckchen und Deine an eine Schnapsnase erinnernde Gesichtsprotuberanz sollen wohl gemütlich wirken - laß Dir sagen: Sie wirken aufgesetzt. Aufgesetzt wie Dein gesamtes pseudofreundliches Gehabe mit Gebimmel und Ho-Ho-Ho. Was meinst Du nur mit dieser Lautäußerung? Falls Du über diejenigen lachst, die Dich mit dem Weihnachtsfest assoziieren, hättest Du recht.

Am schlimmsten ist aber Deine Multiplizität, Deine problemlose Disponierbarkeit, Deine Ubiquitarität: Zu Horden trittst Du auf, immer gleich "gestylt", wobei das Kostüm problemlos sowohl über einem Schianzug als auch beim Surfen getragen werden kann. Wer Weihnachtslaune "von der Stange" vermitteln will, darf eben nicht zimperlich sein. Vorzugsweise aber machst Du Dich überall breit, wo so recht weihnachtlich gekauft und konsumiert werden soll.

Auf Plakaten figurierst Du sozusagen halbprivat mit Tätowierung am Oberarm am Palmenstrand, als Dame verkleidet (bist Du neuerdings transsexuell?) und als k.-o.-geschossenes Opfer von Gewalt im Fernsehen. Letzteres Plakat erweckt bei mir zugegebenermaßen leichte Häme: Wer sich dem Markt ausliefert wie Du, dem passiert das eben - dem Christkind wäre so etwas nie geschehen. Das war immer geheimnisvoll und unsichtbar - und dadurch tausendmal gegenwärtiger als die Tausendschaften Deiner Klone es je sein können.

Ach ja, Deine Mütze - die hätte ich beinahe vergessen. Wann hast Du denn Deine ursprüngliche Bischofsmütze mit diesem Accessoire vertauscht? Hast Du es beim Darmolmännchen ausgeborgt und eingefärbt? Neuerdings "trägt man" dieses Zeug, um sich weihnachtlichen "touch" zu geben: Seht her, ich bin in "Christmas mood"! Verkäuferinnen und Verkäufer, Kellner, Passanten und - leider auch - Kinder gehen so einher. So. Und gerade wegen der Kinder schreibe ich Dir diesen Brief. Laß sie in Ruhe! Patrouilliere von mir aus in Zehnerreihen durch die Kaufhäuser, grunze Dein Ho-Ho-Ho den Erwachsenen ins Gesicht, schwitze unter Deinem lächerlichen Kostüm, aber raube den Kindern nicht den letzten Zauber der Weihnacht, der heiligen Nacht!

Du bist kein Heiliger mehr. Sankt Nikolaus hat sich lang von Dir abgewendet - Du bist säkularisiert, profanisiert, ein Verkaufsmedium wie weiland der blaubehoste Elch mit dem Imbusschlüssel. Nicht mehr bist Du - drum mach nicht mehr aus Dir und behaupte ja nicht, etwas mit Weihnachten zu tun zu haben. Warte nur: In ein paar Jahren bist Du vielleicht so abgenutzt, daß Du endgültig überflüssig sein wirst - der Elch hat es auch nicht ewig gemacht.

Geh zurück Richtung Nordpol. Vielleicht gabelt Dich ein russischer Eisbrecher auf und verschafft Dir ein Rendezvous mit Väterchen Frost. Der dürfte ja irgendwo auf Deiner Linie liegen. Du wirst es nicht glauben: Wir können Weihnachten tatsächlich ohne - ja ganz ohne Weihnachtsmann viel schöner feiern.

Wir kennen ihn noch, den unausgesprochenen, unsichtbaren, unfaßbaren und doch existenten Zauber der heiligen Nacht.

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