Ozeanflieger, Neurotiker, Massenidol

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Die erste große, auf Dokumente der Familie gestützte Biographie von Charles Lindbergh zeigt einen Egozentriker, Rechthaber und genialischen Idealisten.

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Die erste große, auf Dokumente der Familie gestützte Biographie von Charles Lindbergh zeigt einen Egozentriker, Rechthaber und genialischen Idealisten.

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Als am 21. Mai 1927 um 22.24 Uhr auf dem Flughafen Le Bourget ein schüchterner junger Amerikaner unter dem Jubel von 150.000 Menschen aus seinem kleinen Flugzeug gezerrt wurde, sah die Welt plötzlich anders aus. Warum, das wußte man nicht so genau. Der Atlantische Ozean war längst im Flugzeug überquert. Auch noch lang nach dem Zweiten Weltkrieg flogen die Verkehrsflugzeuge zwischen Europa und den USA nicht nonstop, sondern wurden in Irland und Neufundland aufgetankt. Der Alleinflug von Charles Lindbergh war erstens eine enorme persönliche Leistung und zweitens eine Zäsur in der Geschichte der Luftfahrt. Doch die Raserei, die er auslöste, der ungeheure Kult um Lindbergh hat wohl nicht nur mit dessen Leistung und der realen Bedeutung dieser Zäsur zu tun, sondern auch damit, daß er den Menschen ihr Zeitalter bewußt machte. Wenige Minuten vor Lindbergh war in Le Bourget planmäßig die Linienmaschine aus London gelandet. Aber als das winzige Flugzeug Lindberghs aufsetzte, das fast nur aus einem Motor, Flügeln und Steuer, den riesigen Benzintanks und einem Cockpit bestand, aus dem keine Sicht nach vorn möglich war, ging der Welt ein Knopf auf.

Daß sich Lindbergh dem Kult um seine Person entzog, daß sein erstes Kind Opfer eines Verbrechens wurde, daß sein weiteres Leben eine einzige Flucht vor der Öffentlichkeit und vor Journalisten war, die man in diesem Falle tatsächlich nur als Journaille bezeichnen kann, dies alles ist längst bekannt. Welch schwierige Persönlichkeit er war, wie schwer es seine Frau Anne Morrow Lindbergh mit ihm hatte und wie sehr seine zahlreichen Kinder zeitweise unter ihm litten (trotzdem oder gerade deswegen haben sie ihren Weg gemacht), das erfährt man nun aus der ersten großen, seriösen Biographie: "Charles Lindbergh - Ein Idol des 20. Jahrhunderts" von A. Scott Berg. Der Autor hat die Unterstützung der Familie, die Einsicht, die ihm Anne in Lindberghs Tagebücher und in ihre eigenen gewährte sowie das in 2.000 Kartons aufbewahrte Lindbergh-Archiv trefflich genützt.

Vor allem den Tagebüchern und den vielen Trennungen Charles und Anne Lindberghs, beziehungsweise den Bergen ihrer in diesen Zeiten geschriebenen und sorgfältig aufbewahrten Briefe, verdanken wir nun ein Meisterstück von psychologischer Biographie: Ungeheuer detailreich, aber trotzdem nie langweilig. Allerdings konnte der Autor aus dem vollen schöpfen. Charles und Anne Morrow Lindbergh wären jeweils für sich allein trotz seiner Leistungen als Flieger und Erfinder und ihrer als Autorin bei weitem nicht halb so interessant. Der Zusammenstoß dieser komplizierten Persönlichkeiten, seine zweifellos vorhandene Neurose, ihr Leiden an der häufigen Einsamkeit, seine Herrschsucht, ihr Kampf um Eigenständigkeit, nachdem sie sich zulange total angepaßt hatte: Das alles ergibt Dramatik, wird aber nie ausgewalzt oder aufgebauscht. Berg bleibt streng sachlich, der Stoff spricht ja auch wirklich für sich.

Lindbergh überholte nach seinem Ozeanflug mit in kürzester Zeit gedrehten 2,26 Millionen Metern Wochenschaufilm den meistgefilmten Mann seiner Zeit, den Prinzen von Wales, um 600.000 Meter. König Georg empfing ihn zu einem Gespräch unter vier Augen. Erst viel, viel später erfuhr man, wie eine der ersten Fragen Seiner Majestät gelautet hatte: "Eins möcht ich unbedingt wissen, Captain Lindbergh. Sagen Sie mal, wie haben Sie eigentlich gepinkelt?"

Kurz vorher hatte er auf dem Flugfeld von Croydon durchstarten müssen, um nicht einige der herbeigeströmten 150.000 schaulustigen Briten zu überrollen. Dreieinhalb Jahrzehnte später erkannten bei einem großen Essen bei Präsident Kennedy im Weißen Haus nur noch wenige Gäste den großen, schlanken Herrn mit einigen weißen Haarsträhnen auf dem ziemlich kahlen Kopf zwischen der Frau des französischen Botschafters und Madame Malraux. Dazwischen war er jahrelang in der amerikanischen öffentlichen Meinung unten durch, weil ihm Hitler einige Zeit ziemlich imponiert hatte.

Lindbergh war ein Mensch voller Brüche und Widersprüche. Er engagierte sich für das Gleichgewicht in der Natur und für bedrohte Tierarten und liebte fremde Kulturen und Naturvölker, war aber ständig um die weiße Vorherrschaft besorgt. Er wollte seine Kinder anspornen, machte sie aber ständig herunter. Um selbständiger zu werden, begann Anne Morrow Lindbergh zu schreiben, ihr Buch "Muscheln in meiner Hand" wurde ein großer Erfolg. Ihre Ehe war das Ergebnis einer gegenseitigen Liebe auf den ersten oder spätestens zweiten Blick, aber jahrelang sahen sie einander nur, "wenn sich ihre Reiserouten kreuzten". In späteren Jahren schrieben sie zeitweise mit Durchschlägen an Adressen in Europa und Amerika, weil sie nicht immer sicher waren, wo sich der andere gerade aufhielt.

Zeitweise wurde es ganz schlimm mit dem Egozentriker: Selbst nach einer schweren Knieoperation Annes erschien er erst nach Wochen - aber wenn er da war, mußte auch sie da sein, und zwar voll und ganz ausschließlich für ihn: "Seine Selbstbesessenheit erreichte komische Ausmaße. Manchmal verbot er ihr, den Telefonhörer abzuheben, wenn es klingelte; und wenn sie zu lang mit Freundinnen schwatzte, holte er manchmal das Gewehr aus dem Schrank und drohte auf das Telefon zu schießen. Als Anne die 75 Jahre alten Matratzen im Gästezimmer durch neue, im Schlußverkauf gekaufte, ersetzen wollte, löste das eine Predigt aus, daß sie zum Untergang der Kultur beitrage." Der Verfall von "Law and Order" und die Anarchie wurden zur fixen Idee. ",Das ist keine Zeit mehr, in der man in der Nähe einer Großstadt leben kann', pflegte er zu sagen. Und dann antwortete sie: ,Das ist keine Zeit mehr, in der man zwischen verschiedenen Wohnungen herumfliegen kann.'"

Dank der kürzlich mit dem Pulitzer-Preis bedachten Biographie lernen wir Charles Lindbergh spät, aber doch so kennen, wie er war. Seine liebenswerten Seiten, seinen Idealismus, seine Kreativität, mit der er sich nicht nur für die Raumfahrt einsetzte und die Reichweite der amerikanischen Jagdflugzeuge im Zweiten Weltkrieg erhöhte, sondern auch medizinische Geräte konstruierte. Aber auch seine Störungen, die in der miserablen Ehe der Eltern wurzelten, seine fixen Ideen, seine Halsstarrigkeit. Nur dank seiner Halsstarrigkeit bekam er überhaupt das Geld für sein Flugzeug zusammen, die "Spirit of Saint Louis". Aber nicht zuletzt mit seiner Halsstarrigkeit, seiner sturen Unbelehrbarkeit, ritt er sich auch vor dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg in eine unhaltbare isolationistische Position hinein, ging für "America first" auf die Barrikaden, zog sich das Odium des Hitlerfreundes zu, schickte Präsident Roosevelt wütend sein Offizierspatent zurück. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour wollte der Mann, der niemals töten wollte, für Amerika kämpfen, aber Roosevelt verweigerte ihm unerbittlich den Wiedereintritt in die Air Force. Er flog trotzdem im Pazifik Kampfeinsätze - als technischer Experte in einer Marineuniform ohne Rangabzeichen.

Eine weitere Eigenschaft, die Lindbergh zu seiner Ruhmestat befähigt hatte, behielt er buchstäblich bis zum Tode bei: Er mußte alles genau planen, alles pedantisch vorbereiten, bis ins kleinste Detail. Als junger Mann hatte er seinen Alleinflug über den Ozean so vorbereitet, als alter Mann plante er genauso pedantisch seinen Tod. "Er betrachtet den Tod als ein letztes Abenteuer und stürzt sich mit aller Kraft auf seine Vorbereitung" schrieb einer seiner Söhne, Jon, in sein Tagebuch. Charles selbst hatte mit Pausen stets Tagebücher geführt, seine Frau Anne Morrow Lindbergh ebenfalls, ein Teil der Kinder übernahm die leider aus der Mode gekommene Gewohnheit.

Das "letzte Abenteuer" begann mit der Krebserkrankung und einem Telefonat nach Hawai: "Ich habe noch acht bis zehn Tage, und ich will zum Sterben nach Hause. Lieber lebe ich noch zwei Tage in Maui als zwei Monate in diesem Krankenhaus hier in New York." Die Ärzte protestierten, Lindbergh erklärte ihnen, "das Problem sei nun nicht mehr medizinischer, sondern philosophischer Natur". Diese Reise, sagte unterwegs Anne Morrow Lindbergh zu ihren Söhnen neben der über mehrere Sitze gelegten Bahre, sei ein Gegenstück zu seinem Ozeanflug 1927: "Auch da hat niemand geglaubt, daß er es schafft und lebend ankommt". Einst hatte Charles Lindbergh seine Familie mit Checklisten über alles und jedes genervt, von der Wäsche bis zu den Haushaltsausgaben - in den letzten Tagen seines Lebens entstanden die letzten Checklisten. Sie betrafen die Grube, die sofort nach seinem Eintreffen ausgehoben werden mußte, die Größe, damit Platz für Anne blieb und den Sarg. Er wollte ihn "von Hand gezimmert, aus sägerauhem, einheimischem Holz, seitlich und oben völlig flach, ohne jeden Schnörkel. Zwei Landarbeiter bauten die Kiste nach seinen genauen Angaben aus zolldicken Brettern des Eukalyptus robusta, in der dortigen Gegend auch ,Sumpfmahagoni' genannt."

Nachdem er sich um alle Details der Auskleidung gekümmert hatte, er wünschte "mehrere Lagen verschiedener, biologisch abbaubarer Materialien, zuunterst eine Persenning" und auch geklärt war, daß man ihn mit einer alten Decke zudecken würde, die er einst seiner Mutter geschenkt hatte, kümmerte er sich um den Grabstein, eine Granitplatte lediglich mit Namen, Lebensdaten und einigen Zeilen aus einem Psalm, und um die Begräbniszeremonie. Er verbat sich alle Lobreden, statt dessen "wollte er mehrere Textstellen der unterschiedlichsten Denker vorlesen lassen, als sichtbares Zeichen seiner Überzeugung, daß keine Kultur oder Religion ein Monopol auf die Wahrheit habe". Er starb am 26. August 1973 im Alter von 71 Jahren und wurde gemäß den in Hawaii geltenden Vorschriften am selben Tage auf einem abgelegenen, winzigen, schon früher von ihm ausgesuchten Friedhof begraben. 15 Dorfbewohner, die meisten in Arbeitskleidung, gaben ihm außer der engsten Familie das letzte Geleit. Als das erste Fernsehteam anrückte, war alles vorbei.

CHARLES LINDBERGH - EIN IDOL DES 20. JAHRHUNDERTS Von A. Scott Berg Karl Blessing Verlag, München 1999 528 Seiten, geb., öS 423,-/e 30,74

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