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Durers Melancholia

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Vor 475 Jahren, am 21. Mai 1471, wurde Albrecht Dürer in Nürnberg geboren. Sein Leben fällt in eine entscheidungsyolle Wende abendländischer Kunst- und Geistesgeschichte; die Begegnung von Gotik und Renaissance vollzieht , sich in seiner Person so sinnfällig wie bei keinem andern Meister der Zeit.

Unter den zahlreichen kostbaren Kunstschätzen, die unsere Albertina verwahrt, befindet sich auch Dürers Kupferstich der „Melancholia“ von 1514. In seinem humanistisch-literarischen Bildgehalt und in seiner künstlerischen Komposition kündigt sidi jener neue Geist der Renaissance an, dem gerade Dürers — nach der so fruchtbaren italienischen Reise entstandenen — Werke, in denen e.: der klassischen Antike innerlich am nächsten kam, zu seinem Siegeszug nördlich der Alpen verhalfen. Am Ausklang des späten Mittelalters strömen dem christlichen Abendlande aus der Antike neue schöpferische Kräfte zu. Seine eigenen Worte: „Wie die Alten die schönste Gestalt eines Menschen ihrem Abgott Apollo zugemessen haben, also wollen wir dieselben Maße brauchen zu Christo dem Herrn, der der Schönste aller

Welt ist!“, verwirklicht Dürer im Christus seiner in gleicher Schaffensperiode entstandenen Kupferstich-Passion; in ihr wird jene Symbiose zwisdien dem antiken Erbe und dem Ideengut des Abendlandes erkennbar, die zwei Jahrhunderte später im Farbenrausch der Kuppelfresken zahlloser Barockkirchen ihren Triumph feiert. Doch Dürer begreift das vom italienischen Quattrocento wirksam befruchtete neue Kunstwollen nicht allein aus der sichtbaren Form, sondern gestaltet seine Werke aus verinnerliditem tiefem gei* stigem Gehalt, wie er gerade in der „Melancholia“ mit beziehungsreicher Spannung die äußere Gestalt erfüllt. Dem Auge drängt sich ein wirres Durcheinander auf und erst der ordnende Geist vermag diese krause Vielfalt unzähliger Kleinformen zu einem sinnvollen harmonischen Gefüge, das bis ins kleinste Detail eine tiefe Sinnfälligkeit ausstrahlt, zu gliedern.

Der oberflächliche und sogar noch der flüchtigste Betrachter des „Melancholia“-Stiches wird den rätselvollen Reichtum seiner transzendenten Szenerie ahnen können. So wurde dieses vieldeutige Meisterwerk im Verlaufe der kunstlüstorischen Forschung zum Tummelplatz der mannigfaltigsten Interpretationen und seit Sandrart, dem deutschen Kunsthistoriographen des 17. Jahrhunderts, der schon von den „klugen Tiefsinnigkeiten unseres großen Dürers“ spricht, hat jede Generation immer wieder Neues herauszulesen versucht. Erst der Forschung des späteren 19. Jahrhunderts kommt das Verdienst zu, den Zusammenhang des Dürer-Blattes mit der schon dem Altertum bekannten Lehre von den charakter- und temperamentformenden Säften, den humores viciosi, aufgedeckt zu haben. Im Laufe der abendländischen Geistesentwicklung hatte sich das Bild von den schon der griechischen Philosophie geläufigen vier Grundtypen menschlicher Temperamente mehrmals verschoben. Ursprünglich bedeuten sie einen durch die Vorherrschaft eines der vier Säfte hervorgerufenen Krankheitszustand, bis Aristoteles diese einseitig-pathologische Anschauung — die auch Plato vertrat — in eine universellphilosophische verwandelt. Aristoteles schreibt der Melancholie jene Kraft zu, die unter günstigen Bedingungen den menschlichen Geist zu seinen größten Leistungen befähigt. Früh schon wird diese Theorie von den temperamentbildenden Säften mit astronomischen und allgemein-naturwissensdiaftlichen Begriffen in Beziehung gesetzt; jedem der vier elementaren Charaktergrunulialtungen wird ein schicksalbestimmendes Gestirn zugeschrieben. So wird der ganze Komplex, den die antike Mythologie vom Gotte Saturnius überliefert, mit den vermutlichen Eigenschaften des Melancholikers identifiziert. Diese hohen ethischen Werte aber, wie sie seit Aristoteles dem Melancholiker zugeschrieben wurden, gingen dem hohen Mittelalter verloren, sein Bild schlägt hieb.ei fast in sein Gegenteil um. Die Hauptquelle der mittelalterlichen Überlieferung war eine im 9. Jahrhundert verfaßte arabische Schrift, die im 12. Jahrhundert ins Lateinische übertragen wurde. Sämtliche Illustrationen„ die uns das Mittelalter vom Melandioliker überliefert, zeigen diese negative Auffassung: Meist wird ein Mann und ein Weib aus niederem Stande dargestellt, die dumpf und faul auf ihrem Stuhle eingeschlafen sind. Die Unlust zu jeder Tätigkeit entsprach nach volkstümlicher Auffassung dem Wesen der Melancholie, sie galt als der „unedelste Komplex“ überhaupt. Erst die florentinische Renaissance greift wieder auf die aristotelische Fassung zurück, die auch Marsiglio Ficino in sein Buch „Vom gesunden Leben“ aufnahm, dessen deutsdie Übertragung 1497 bei Dürers Paten, dem Nürnberger Drucker Koberger, ersdiien und durch deren Bekanntschaft sicherlich vieles in Dürers „Melancholia“ einströmte. Anklänge einer Wiedererweckung finden sich vorher schon in der „Divina Commedia“ Dantes; ist es doch im XXI. Gesang des Paradiso die Saturnsphäre, in der dem Dichter die erlauchtesten Vertreter der vita contemplativa begegnen; auch schon Petrarca fühlte sich als Melancholiker. So läßt sich von hier ab ein ununterbrochenes Festhalten an der Auffassung von der Melancholie des schöpferischen Mensdien in der abendländischen Geistesgeschichte verfolgen, die bis zu Trakl heraufreicht; selbst bei dem apollinischen Goethe heißt es:

„Zart Gedicht, wie Regenbogen, Wird nur auf dunklen Grund gezogen, Darum behagt dem Dichtergenie Das Element der Melancholie.“

Die Schrift des Marsiglio Ficino stellt nun ganz eindeutig wieder den Begriff der Melancholie des genialen Menschen in den Vordergrund, doch weist auch er auf dessen labile Veranlagung hin, die jeden Augenblick ins krankhafte umschlagen kann; seine Gesundheit hat stets den Charakter eines bloßen Grenzzustandes. Dementsprechend unterscheidet er eine natürliche und eine krankhafte Melancholie. (Das auf den Flügeln des fledermausähnlidjen Fabeltieres eingeschriebene Melencolia „I“ läßt die Vermutung zu, daß Dürer vielleicht in einem zweiten Blatt die krankhafte Form darstellen wollte.) Um die Gefahr des Melancholikers zu bannen, empfiehlt Ficino drei Kategorien als Gegenmittel: diätetische, medikamentöse und magisch-astrologisdie. Diesen begegnen wir auch auf Dürers Stich; die diätetischen bekämpfen die Verdidtung des Blutes und die Behinderung des Stoffwechsels infolge der sitzenden Lebensweise: diskret verhüllt entdecken wir auf dem Blatt das Klistier. Die medikamentösen verhindern die schädlichen Einwirkungen der erdhaften schwarzen Galle: diese vertritt der Blätterkranz am Haupte der „Melancholia“. (Bei Ficino heißt es, daß sich der Melancholiker feuchter Kräuter bedienen soll, die er sich nach „Pflasterweis“ aufs Haupt zu legen hat.) Das magische Quadrat deutet auf die magisch-astrologischen Mittel; diese begegnen dem störenden Einfluß derjenigen Planeten, die melancholische Erkrankungen hervorrufen; hier ist es das dem Melancholiker günstig wirksame Quadrat Jupiters. Die Umwelt der „Melancholia“ entstammt dem Bereich des saturnischen Menschen; in den verschiedensten Symbolen werden die ihm zugeschriebenen Berufe angedeutet, von denen Dürer besonders drei betont: Baumeister, Steinmetz und Holzarbeiter. Manche Einzelheiten des Blattes ergeben einen Zusammenhang mit dem frühesten europäischen Bilderzyklus, in dem Planetenbilder und Berufsdarstellungen verbunden werden, nämlich die Fresken in der Sa-lone von Padua aus dem frühen 14. Jahrhundert. Vielleicht hat Dürer dieses Werk selbst gesehen, sicherlich aber kannte es sein Freund, der Humanist Willibald Pirck-heimer, der lange Zeit in Padua lebte und auf die Konzeption der „Melancholia“ Dürers mitgestaltenden Einfluß hatte.

Was bewog nun Dürer, die drei erwähnten Berufe herauszuheben? Was ihnen gemeinsam zugrunde liegt, ist die Kunst des Messens: die Geometria. Damit ist auch die Antwort gefunden, denn die Mathematik ist die Wissenschaft der Epoche. „Nichts Sichereres besitzen wir in unsergr Wissenschaft als unsere Mathematik“, bekennt Nicolaus von Cues, und selbst die Kunst zur mathematischen Wissenschaft zu erheben ist geradezu Dürers künstlerisches Zentralerlebnis. Mit dieser Deutang erlangen all die verstreuten Werkzeuge ihre symbolhafte Sinnfälligkeit: Nägel, Richtscheit, Säge, Hobel, Profilholz, Zange und Hammer versinnbildlichen die angewandte, Zirkel, Schreibzeug und Buch die abstrakte, Kugel und Polyeder die darstellende Geometrie. Dagegen sollen Sanduhr, Waage und Glocke als Zeit- und Raummesser Mahnruf sein, und uferloses Versinken ins gefahrvolle Metaphysische verhüten. Daß eine solche Aufassung von Dürer selbst beabsichtigt war, beweisen zwei Skizzen, auf denen er selbst die Deutung handschriftlich festgehalten hat: es ist der Schlüsselbund und Beutel der „Melancholia“, denen er Gewalt und Reichtum zuschreibt, also Attribute des Saturnmenschen. So vereint Dürers schöpferische Meisterschaft die im Raum isolierten Dinge durch gedankliche Relation, es entsteht ein harmonischer Einklang von Licht, Atmosphäre mit einer menschlichen' Seelenstimmung, die in kindlicher Verkleinerung in dem Putto mitschwingt und ebenso der Hund in die tierische Sphäre überträgt.

Trotzdem verschiedentlich die Meinung geäußert wurde, die „Melancholia“ sei das einzige ausgeführte der von Dürer geplanten vier Temperamentsbilder, scheint sie doch nicht als vereinzeltes Blatt zusammenhanglos dazustehen. Sowohl künstlerisch als auch inhaltlich steht sie in innigem Zusammenhang mit zwei anderen bekannten Kupferstichen: dem „Ritter, Tod und Teufel“ (1513) und „Hieronymus im Gehaus“ (1514). In ihnen gestaltet Dürer die Bildfiguren zu Trägern verschiedener menschlicher Seinsverhalte: Wird der Ritter zwischen den Mächten des Todes zur sittlichen Entscheidung aufgerufen, so zeigt Dürer im „Hieronymus“ das stillergebene demütige Gottesdienen im seligen Frieden. In der „Melancholia“ nun führt uns der Künstler an eine dritte große Frage heran: Es ist der tragische Konflikt, der Augenblick des Erfassens der Grenzenlosigkeit und des Versagens alles spekulativ-rationalistischen Denkens, das seine Wahrheit außerhalb Gott sucht. So wird das eigentliche Gegenstück zum unbefriedigten faustischen Geist der „Melancholia“ der „Hieronymus“-Stich mit seiner metaphysischreligiösen Sphäre und es ist seltsam genug, daß unter Dürers Aufzeichnungen über verschenkte Bilder im Tagebuch seiner niederländischen Reise immer beide Blätter gemeinsam angeführt werden. Richtschnur wahrer großer Kunst bleibt immer der Aufruf des Menschen zur Entscheidung: entweder zur sittlichen Kapitulation oder zur Höhe! Am Anfang aller Kunst stand nicht der nicht verpflichtende Genuß; ihr Auftrag ist ein höherer und wie einst im Mittelalter aus religiöser Begnadung gewaltige Baumassen sich erhoben, so auch Dürers großartige Kupferstichtrilogie, mit der er seine von geistigen Gefahren bedrohten Zeitgenossen zur ethischen Entscheidung aufruft.

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