Wo das Nichts nichtet

Werbung
Werbung
Werbung

Eine Stimme aus der Provinz: "Gemeinnütziger Vortrag über Waidmannsdorf".

Die Erde ist einer der kleinsten Planeten ihres Sonnensystems, Europa einer der kleinsten Kontinente der Erde, Österreich einer der kleinsten Staaten Europas, Kärnten eines der kleinsten Bundesländer Österreichs, Klagenfurt eine der kleinsten Landeshauptstädte. Die Waidmannsdorferstraße aber ist die allerlängste Straße von ganz Klagenfurt. Und da wohne ich.

Ich bin also Westklagenfurter, aber da ich nicht mein Leben lang in Westklagenfurt geblieben, sondern hinaus in die weite Welt gegangen bin und etliche Jahre in Ostklagenfurt gelebt habe, dann aber aus Ostklagenfurt um viele Erfahrungen reicher nach Westklagenfurt rückübersiedelt bin, darf ich mich nicht nur als Geburtswestklagenfurter, sondern auch als Wahlwestklagenfurter bezeichnen. Was solche Wahlen betrifft, muss man sich freilich immer den Blick für das Machbare bewahren: Oft wählt man ja, und am anderen Ende der Leitung ist besetzt. Oft wählt man eine Delikatesse, und im letzten Moment lässt die Küche dann doch noch mitteilen, dass alles außer dem Menu leider aus ist. Oft wählt man ja, und Bundeskanzler wird dann jemand ganz anderer. Westklagenfurt war sicher keine schlechte Wahl, aber Rom, Nizza oder Lissabon hätten mir auch ganz gut gefallen.

Hingegen muss ich, hochverehrte Damen und gewissermaßen verehrte Herren, leider in Abrede stellen, dass ich Waidmannsdorfer (oder exakt: Nordostwaidmannsdorfer) bin, nicht obwohl, sondern gerade weil ich in der Waidmannsdorferstraße wohne. Denn eine Straße wird ja gewöhnlich gerade nicht nach dem Ort benannt, durch den sie führt, sie weist höchstens die Richtung. Eine Klagenfurter Straße gibt es in St. Veit, nicht in Klagenfurt, eine Villacher Straße in Klagenfurt, nicht in Villach, eine Kärntner Straße in Wien, nicht in Kärnten. Die Kanaltaler Straße führt zwar durch die Kanaltalersiedlung, aber eben nicht durch das Kanaltal, und genau aus diesem Grund heißt sie eben nicht Kanaltalersiedlungsstraße.

Ich kenne übrigens eine Lindwurmstraße, aber nicht in Klagenfurt, sondern in München. Als ich letztens bei den lieben Weißwurstnibelungen war, bin ich vom Goetheplatz diese Lindwurmstraße entlang bis zum Sendlinger Tor und der Redaktion der Süddeutschen Zeitung in der Sendlingerstraße spaziert, und ich habe zwar nicht herausgefunden, warum die Lindwurmstraße Lindwurmstraße heißt (ich hab mich auch nicht sehr bemüht; mir ist entschieden alles egal), aber ich bin froh gewesen, dass diese Lindwurmstraße durch München und nicht durch Klagenfurt führt. Hier müssen nämlich haufenweise schwerkranke Leute leben, habe ich mir gedacht, denn anstatt Cafés, Nachtbars, Lebensmittelgeschäften, Blumenläden wie in der Waidmannsdorferstraße gibt es in der Lindwurmstraße nichts als Arztpraxen, Spezialkliniken, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Heilpraktiker, unterbrochen nur durch distinguierte Dienstleistungsbetriebe wie Trauer & Hilfe Denk. Trauervorsorge, Anleitung zum Verfassen letzter Willen, Erdbestattung, Feuerbestattung, Überführung. Angebot der Woche: Seebestattungen in Nord- und Ostsee. Für die, die noch nicht ganz soweit sind, gegenüber: Hinweis auf die Deutsche Venenwochen (mit kostenloser Venenfunktionsmessung). Am Sendlinger Tor schließlich ein Maronistand, auf seiner Rückseite ein Plakat, darauf kann ein Boulevardier wie ich Folgendes lesen: Alle fünf Minuten bricht ein Bundesdeutscher mit einem Herzinfarkt zusammen, alle fünf Stunden wird einer Opfer eines Schlaganfalls! (Und das trotz der Deutschen Venenwochen, Wahnsinn!) Aber - steht auf dem Plakat - in Rutosid, einem Enzym der Castanea sativa (Edelkastanie) entdeckten Schweizer Mediziner den effektiven Schutz vor Herzinfarkt und Schlaganfall! Und dann groß und fett gedruckt: I LOVE CHESTNUTS!!! Wer wird da nicht zuschlagen aus gesundheitlichen Gründen! Kastanienreis habe ich tatsächlich immer geliebt, und jetzt erst recht. Nur gibt mir meine weltweise Frau zu bedenken, dass die maronienzymbedingte Hirnschlagrisikominimierung durch den dem Kastanienreis beigemengten Zucker, Rum und die Butter ins Gegenteil verkehrt und das minimierte Risiko erst wieder maximiert wird. In die große, weite Welt hinauszufahren, bringt summa summarum gar nichts.

Aber die Zeit ist knapp, und ich schweife vom Thema ab, das ist eine Unsitte von mir, ich weiß, zurück zur Waidmannsdorferstraße, die nicht nur die längste hier, sondern auch die einzige Straße im Ortsgebiet ist, bei der man an einer Stelle - gleich nach der Bahnübersetzung - blinken und abbiegen muss, damit man auf ihr bleibt! Vielleicht ist das eine Metapher oder ein Symbol oder ein Wink oder ein Zaunpfahl oder was weiß ich; jedenfalls hätte ich beinahe einmal Strafe gezahlt, weil ich auf der Waidmannsdorferstraße nicht geblinkt habe, um auf meiner Waidmannsdorferstraße zu bleiben, aber ich habe gegen die Organstrafverfügung Beschwerde beim Obersten Gerichtshof eingelegt, und der hat mich womöglich für einen käuzischen Querulanten oder für wen auch immer gehalten, jedenfalls hat er das Verfahren eingestellt, das heißt, er hat einfach nicht mehr reagiert, und die Geschichte ist im Sand verlaufen. Alles lasse ich mir eben nicht gefallen! Naja. Während also die Kärntner Straße zwar nicht durch Kärnten führt, aber den Wienern die Richtung nach Kärnten weist, weist die Waidmannsdorferstraße offenbar auch nicht nach Waidmannsdorf, denn am südlichen Ende der Waidmannsdorferstraße beginnt Viktring (und der Weg weist entweder nach Slowenien oder nach Keutschach), am nördlichen Ende plumpst man in und hinter liegen die Wohnungen von Alexander Widner und Josef Winkler. Beides kann nicht Waidmannsdorf sein. Womöglich eröffnet sich das wirkliche Waidmannsdorfer Wesen nur dem wahren Waidmannsdorfer, und wenn ich als deklarierter Nichtwaidmannsdorfer hier einen gemeinnützigen Vortrag über Waidmannsdorf halte, ist das ein wenig so, als wenn der jetzige Kärntner Landeshauptmann von seiner "Kärntner Heimat" spricht (oder wenn der Präsident der Vereinigten Staaten den Berlinern in Berlin zuruft: "Ich bin ein Berliner!" Oder wenn Michail Gorbatschow politisch ausrangiert in einem ÖBB-Waggon lungert und "Perestrojka!" murmelt. Oder, oder, oder ...).

Nachdem ich nun mit meinem Fahrrad die gesamte Waidmannsdorferstraße von Norden nach Süden und von Süden wieder nach Norden abgefahren bin, habe ich zum ersten Mal in meinem nun bald vierzig Jahre alten Leben den unfassbaren Gedanken gedacht, dass es Waidmannsdorf in Wirklichkeit vielleicht gar nicht gibt. Und umso intensiver ich Waidmannsdorf gesucht habe, desto mehr Indizien habe ich für seine Nichtexistenz gefunden: Dass es keine regulären Ortstafeln gibt, die Waidmannsdorf verkünden, ist noch ein schwächeres Argument - schließlich wird auch in Wien Favoriten, in Lissabon die Alfama oder in München Straubing nicht eigens angezeigt. Aber schon der Name ist kryptisch und geheimnisvoll: Dass Waidmannsdorf nicht Waidmannsstadtteil heißt, mag ja noch angehen: Auch Düsseldorf heißt nicht Düsselstadt, Eisenstadt nicht Eisendorf und alle Münchner nennen München ein Dorf. (Mehr als das Dorf gibt mir an Düsseldorf übrigens der Düssel zu denken, vielleicht ist das eine Praline, vielleicht ein Hautarzt aus dem 19. Jahrhundert, vielleicht ein Schimpfwort für den deutschen Bundespräsidenten? Wenn ich jedenfalls einmal nach Düsseldorf komme, muss ich unbedingt diesen geheimnisvollen Düssel besichtigen). Und ich behaupte ja auch gar nicht, dass in Waidmannsdorf lauter Waidmänner wohnen müssten (in ganz Klagenfurt gibt es keinen einzigen Waidmann, jedenfalls nicht im Telephonbuch, und auch in Wien-Favoriten gibt es - vornehm gesagt - weniger Favoriten als Underdogs und Außenseiter. Die Favoriten wohnen in Döbling). Aber wenn ich Post von Verlagen oder Redaktionen aus Wien oder München bekomme, ist zwar mittlerweile mein Geschlecht erraten und mein Name richtig geschrieben, die Waidmannsdorferstraße darunter aber hartnäckig mit ei. Der Weidmann ist ein Jäger, weidwundes Vieh angeschossen. Beides trifft hier nicht zu. Es gibt bloß einen Tierarzt und ein Unfallkrankenhaus. Das allerdings ist schwarz (wo gibt es sonst noch auf der Welt ein Krankenhaus mit pechschwarzer Fassade?) - insofern ist die Trauervorsorge schon inkludiert. In eine Weidmannsdorferstraße wäre ich aus Ostklagenfurt aber nie und nimmer rückübersiedelt: Jagd und Jäger sind mir zuwider, von den ausgestopften Hirschen, Enten, Fasanen, Gänsen esse ich nur die Stopfmasse, also die Maroni. Waidmannsdorferstraße mit ai, erklär ich den Wienern und den Münchnern immer wieder, so wie Waidhofen an der Thaya oder Waidhofen an der Ybbs. Den Münchnern sagt Waidhofen aber auch nichts, weder an der Thaya, noch an der Ybbs. Der Waid, erklärt mein Österreichisches Wörterbuch - immer noch das zuverlässigste, das ich habe -, sei eine Pflanze, nur welche, das erklärt es nicht. Die Weide, also der Strauch oder der Baum mit den Weidenkätzchen und dem ei kann es aber nicht sein. Seltsam, seltsam!

Wenn man schon keine Grenzen definieren kann, müsste es wenigstens ein Zentrum geben, ein innerurban peripheres Nebenzentrum wenigstens, aber auch das ist schwer zu finden. Wohl stehen weithin sichtbar zwei Sternhochhäuser in der Luegerstraße, deren Architektur damals, als sie gebaut wurden, sicher futuristisch empfunden worden ist und die zweifelsohne Waidmannsdorfer Wahrzeichen wären, wenn es Waidmannsdorf gäbe. In einem dieser beiden hat eine zeitlang Christine Lavant gewohnt, das ist ihr aber nicht gut bekommen. Sie hat damals unter anderem an einer Schreibhemmung gelitten und unter anderem auch nichts über Waidmannsdorf geschrieben. Wohl gibt es die Café-Konditorei Fahrnberger. Da gibt es außer einer wunderhübschen Kellnerin - nicht die, die andere! - übrigens ganz brauchbare Maronitörtchen, weshalb beim Fahrnberger noch selten jemand einen Herzinfarkt oder einen Gehirnschlag erlitten hat; dafür hat dort, wie die gebildeten Stände wissen, Robert Schindel große Teile seines Romans "Gebürtig" geschrieben. Waidmannsdorf ist darin allerdings mit keinem Wort erwähnt.

Urbane Experten vermuten als Zentrum den sogenannten Baum-bachplatz zwischen Siebenhügel und der Kanaltalersiedlung, wobei man schon sagen muss, dass es ein wenig merkwürdig ist, einen Platz nach einem Bach zu nennen, der nach einem Baum benannt ist. Wie soll denn das gehen? Die Weide, gut, aber die schreibt man mit ei. Oder es handelt sich bei Bach und Baum nicht um Naturphänomene, sondern um Eigennamen, und der Platz ist dazu da, zwei Persönlichkeiten zu verewigen, den Klagenfurter Historiker Wilhelm Baum zum Beispiel und den Komponisten Johann Sebastian Bach. Allerdings hat mir Wilhelm Baum - der sich wirklich auf Gedenktafeln versteht - versichert, dass Johann Sebastian Bach rein gar nichts mit Waidmannsdorf zu schaffen gehabt hat. Wahrscheinlich hätte Baum den Platz gern für sich allein. Oder es handelt sich um eine einzige Person namens Baumbach, von der ich aber nicht das geringste weiß, und ich müsste nochmals den Historiker konsultieren. Das jedoch ist mir entschieden zu peinlich. Geradezu mysteriös wird die ganze Angelegenheit nun dadurch, dass es dort, wo auf den Häuserfronten Baumbachplatz steht, nicht nur keinen Baum und keinen Bach, sondern auch keinen Platz gibt. Ich habe bei meiner Suche das Espresso Affi und daneben ein Geschäft mit Femina Dessous-Wäsche entdeckt (Slips, die niemals ziehen; Slips, die niemals drücken; ein schlecht sitzender Slip kann tödlich sein; Verkauf über Drogerie Polessnig um die Ecke. Danke!!!), aber Platz habe ich keinen bemerkt. Vielleicht ist die Wahrheit einfach die, dass es, weil es kein Waidmannsdorf, sondern nur ein Nichtwaidmannsdorf gibt, auch keinen Baumbachplatz geben kann, obwohl er so heißt. Und wo es gar nichts gibt, gibt es natürlich auch kein Zentrum.

Durch Siebenhügel, westlich vom Nichtbaumbachplatz (oder: Nichtbaumbachnichtplatz) gelegen, führt übrigens die Siebenhügelstraße, was, wie dem eingangs Gesagten zu entnehmen, an sich schon einer Widerlegung Siebenhügels gleichkommt. (Wo sonst hat man außerdem schon gesehen und gehört, dass ein Stadtteil einen Stadtteilteil hat?). Und während bedeutende Städte wie Rom oder Lissabon tatsächlich auf sieben Hügeln erbaut worden sind (und daher auch Rom und Lissabon heißen), gibt es in Siebenhügel weder sieben, noch einen einzigen Hügel. Immer dringender habe ich den Verdacht, dass dieser abenteuerliche Stadtteil vor undenklichen Zeiten von lauter Sophisten und Nihilisten gegründet worden sein muss, die die ganze Menschheitsgeschichte hindurch Generation um Generation darauf gewartet haben, dass ich, ihr zeitferner Nachfahre im Geist ihr hinterfotziges Werk nach Heerscharen von Blindgängern endlich zu entdecken und zu würdigen weiß: Waidmannsdorf: Wo das Nichts nichtet! Nach all dem bisher zu Tage Geförderten wird sich der wackere Waidmannsdorfer Wanderer wohl auch nicht mehr wundern, dass das Zentrum Siebenhügels, die Siebenhügelkirche keine Kirche ist. Jedenfalls ist ihr Kirchturm kein Kirchturm: Das sind einfach zwei ineinander verschachtelte Reihenhäuser. Am Dach eines der beiden Häuser steckt wohl ein Kreuz, und es besteht sogar wie dereinst aus schlichtem Holz, allerdings - wen wundert's - ist auch das Kreuz kein Kreuz, denn es hat nicht einen, sondern zwei normal zueinander stehende Querbalken, deren Ende in alle vier Himmelrichtungen weisen, sodass das Ding am ehesten aussieht wie der Mantelständer beim Fahrnberger. Kreuzigen kann man auf einem solchen Instrument beim besten Willen niemanden!

Das Klerikale ist immer heikel, und ich höre auch schon auf, damit herumzualbern, denn in meiner Bekanntschaft gibt es einen ganz lieben Westsüdwestwaidmannsdorfer, einen Westsüdwestweltwaidmannsdorfer eigentlich, der Pfarrkirchenrat oder Pfarrgemeinderat war oder ist (so genau beschäftige ich mich mit diesen Dingen nicht). Ihm aber sind diese Dinge heilig, und mir liegt gar nichts daran, ihn zu kränken. Soll jeder nach seiner Façon metaphysisch werden. Also lasse ich die Siebenhügelkirche in Frieden und erzähle zur Relativierung und Entschädigung ganz einfach lieber etwas über die Münchner Frauenkirche. Denn diese Kirche ist zweifellos eine Kirche und ihre Kirchtürme sind zweifellos Kirchtürme. Über dem Volksaltar hängt in luftiger Höhe bloß an einem filigranen Stahldrahtseil ein gewaltiges Holzkreuz (dieses Kreuz ist ein Kreuz) mit einem gewaltigen Corpus Christi, und falls dieses Drahtseil einmal reißt, dann hat der Priester seine letzte Predigt gepredigt und seine Himmelfahrt passiert auf der Stelle, da hilft kein Notarzt und kein Rotkreuzkurs mehr, weder Maroni, noch Deutsche Venenwochen. Seit meinem letzten Münchner Aufenthalt weiß ich übrigens auch, warum die Frauenkirche Frauenkirche heißt. Denn im Inneren des Kirchenschiffs befindet sich ein Minimundusmodell der Kirche (sozusagen der Embryo), und aus der Vogelperspektive sieht man, dass die Kirchturmspitzen weder Spitzen, noch Kuppeln sind: Das sind, pardon, schlicht und einfach Titten, herrliche Bronzebrüste mit herrlichen Bronzebrustwarzen. Ein wunderbarer Anblick vom Himmel aus. Allenfalls hätte man sie auch Zweihügelkirche nennen können.

Was ich dauernd für albernes Zeug daherrede! Es ist wie bei Anton Tschechow, der einmal eine kleine Geschichte über einen Herrn Njuchin geschrieben hat, welcher auf der Bühne eines Klubs in der russischen Provinz andauernd gemeinnützige Vorträge - zum Beispiel Von der Schädlichkeit des Tabaks - hält, zu denen er von seiner tyrannischen Frau gezwungen wird. Njuchin schweift in seinem Vortrag aber immer wieder ab und kommt coram publico auf sein elendes privates Los zu sprechen, das ihn förmlich dazu zwingt, die Schädlichkeit des Tabaks für sein insgesamt jämmerliches Schicksal in Kauf zu nehmen. Und ich referiere eben über Waidmannsdorf. Mir ist, sagt Njuchin, entschieden alles egal. Wie ich jetzt von Waidmannsdorf nach Russland und zu Njuchin und Tschechow gekommen bin, ist mir auch nicht ganz klar; wahrscheinlich, weil es hier einmal eine sogenannte Russensiedlung gegeben hat, russische Kriegsgefangene, die nach dem Krieg hier geblieben sind, die heutige Daghammerskjöldsiedlung nördlich des Waidmannsdorfer Stadions, das übrigens natürlich nicht Stadion Waidmannsdorf, sondern Stadion Wörthersee heißt, und auch wenn die ehemalige südliche Russenzeile heute nicht mehr Südliche Russenzeile und die ehemalige Nördliche Russenzeile heute nicht mehr Nördliche Russenzeile, sondern Eberhard-Kranzmayerstraße heißt (wo mein Lieblingswestsüdwestwaidmannsdorfer wohnt), muss sich irgendetwas Russisches hier gehalten haben: Zum Beispiel hat beim einzigen Ländespiel der österreichischen Fußballgeschichte, das jemals auf Klagenfurter und damit auf Waidmannsdorfer Boden stattgefunden hat, der Gegner Russland geheißen. Österreich ist damals gegen Russland im Wörtherseestadion 0:3 ertrunken, und seither hütet sich Österreich vor Klagenfurt. Vom "Russischen Fatalismus", wie ihn Friedrich Nietzsche beschreibt, war an jenem fatalen 15. August 1994 jedenfalls nicht viel zu merken.

Wie auch immer: Waidmannsdorf ist mein Schicksal. Und wenn schon! Ich könnte in den schönsten Städten der Welt sitzen, in Rom, Nizza oder Lissabon: Letztlich würde ich mir auch in diesen Städten ein Stadtviertel aussuchen müssen. Auch in diesen Stadtvierteln wird es Karnevalsumzüge gegeben, die mir zuwider sind, Kirchtage, die mir zuwider sind, Vorstadtreihenhaussiedlungen, Umspannwerke, Schrebergärten, Fußballstehplatzpublikum, Krampustreiben, Vorweihnachtsstraßenschmuck. Auch in diesen Stadtvierteln wird es Bürgermeister geben, die gar keine sind und außerdem gestorben sind, und es gibt dann auch keine Neuwahlen. Auch in diesen Stadtvierteln würde ich mich womöglich vergeblich auf die Suche nach dem Großen und dem Großartigen machen, auch dort würde ich womöglich das Gefühl haben, etwas zu versäumen und dass das eigentliche Leben woanders stattfindet. Immer möchte ich woanders sein als ich bin, aber sobald ich woanders bin, möchte ich wieder woanders sein, und ich kann auch gar nie woanders sein, weil ich das, was ich habe, wo ich bin, unmöglich hinter mir lassen kann. Auch woanders würde ich schon meiner Neurologie zuliebe Maronimampfen, Zigaretten rauchen. Insofern ist ein Stadtviertel, das es gar nicht gibt, für mich das ideale.

Hochverehrte Damen und gewissermaßen verehrte Herren! Nur damit Sie mich nicht falsch verstehen: Im Unterschied zu Njuchin (der bei seinen Vorträgen das Publikum auch immer mit Hochverehrte Damen und gewissermaßen verehrte Herren! anspricht), habe ich keine tyrannische, sondern eine liebe und grundgütige, wenn auch natürlich komplizierte Frau (immerhin macht sie mir ja meine gehirnschlagsvorbeugenden Maronimaßnahmen madig!) - diesen Satz schreibe ich und lass ihn so stehen, obwohl ich gar nicht weiß, ob meine Frau, wenn ich diesen Vortrag halte, anwesend sein wird! - und ich liebe sie, wie ich überhaupt die Frauen liebe, ob es nun meine sind oder nicht, aber meine vor allem. Jetzt schreibe ich schon beinahe ein Jahr lang einen Roman über all die Frauen, die ich aus tiefster Seele liebe (ich nehme an, es wird so eine Art Schlüssellochseelenprosa), aber mir ist klar, dass ich diesen Roman (schweren Herzens) nie veröffentlichen und nicht einen Schilling damit verdienen werde können, denn eine Publikation dieser Schlüssellochseelenprosa käme der vollständigen Zerstörung meines Familienglücks gleich. Meine Frau würde mich zutiefst verletzt verlassen und erbost zurück nach Ostklagenfurt gehen, meine armen Kinder würden Scheidungswaisen und sich Verhaltensauffälligkeiten zulegen; ich müsste am Wochenende mit ihnen in den Zoo, den es gar nicht gibt. (Womöglich fange ich dann vor lauter Verzweiflung zu trinken an und ende als Thekenstammgast im Tabaris. Why not?)

All das wäre mir schrecklich peinlich, und so bin ich gezwungen, mich parallel zu meinem eigentlichen Geheimhauptwerk mit so harmlos-biederen und elenden gemeinnützigen Vorträgen für gebildete Stände wie den über Waidmannsdorf finanziell über Wasser zu halten. Und auch den werde ich nur ein einziges Mal halten und weder wiederverwerten, noch nachnützen können. Denn wer in der großen weiten Welt interessiert sich schon für Waidmannsdorf? Wer für die Baumbachplatzkryptizismen? (Obwohl, es wäre doch schön, das ganze Jahr hindurch Reisebusse voller Touristen aller Herren Länder und Städte, als da wären zum Beispiel Rom, Nizza oder Lissabon, anzukarren und sie auf die Suche nach ihrem persönlichen Baumbachplatz zu schicken, dem Waidmannsdorfer Loch Ness. Aber, hochverehrte Damen und gewissermaßen verehrte Herren, ehrlich gestanden habe ich da wenig Hoffnung).

Womöglich würden die Redaktionen in Wien oder München ihre Rücksendungen dieses gemeinnützigen Vortrags nun dank dieses gemeinnützigen Vortrags bis zum letzten Buchstaben korrekt adressieren, mir aber höflich mitteilen, dass dieser Text zu speziell - und das heißt im unhöflichen Klartext: zu provinziell - geraten sei. Oder man würde mir zur Rettung der Geschichte dringend Kürzungen empfehlen: Also, die Lindwurmstraßenstelle lassen wir! Die Frauenkirchenstelle lassen wir! Und den Rest streichen wir! Oder lassen Sie vielleicht doch mal diese obskure Schlüssellochseelenprosa rüberwachsen! Gibt's da auch einschlägige Stellen? Die könnten ja zum Beispiel in Waidmannsdorf spielen, und dann könnte man auch die Slips, die niemals drücken, lassen, die Slips, die niemals ziehen und die Slips, die niemals zwicken!

Umso länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher kommt mir vor, dass ich leider nicht viel davon habe, dass die Waidmannsdorferstraße, in der ich wohne, arbeite, phantasiere, die längste von ganz Klagenfurt ist. Denn Klagenfurt ist nun einmal nur eine der kleineren Landeshauptstädte Österreichs, Österreich nur einer der kleineren Staaten Europas, Europa nur einer der kleineren Kontinente der Erde, und die Erde nur einer der kleineren Planeten im Weltall.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung