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ÄDLAI STEVENSON / ABSCHIED VON EINEM GERECHTEN

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In das gespannte Warten des amerikanischen Volkes auf die Nachrichten, die die Marssonde übermitteln würde, brach die Meldung von dem jähen Tode Adlai E. Stevensons hinein. War es Zufall oder Ironie der Vorsehung, daß Mars für kurze Zeit hinter dem Verstorbenen zurücktrat? Mars kann es sich leisten, diese momentane Zurücksetzung gelassen hinzunehmen. Schließlich war es ihm seit geraumer Zeit mehr und mehr gelungen, den toten Friedensdiener beiseite zu drängen. Selbst die Lobpreisungen des Verstorbenen zeigen mit ihrer melancholischen Beschwörung friedlicher Zeiten, wie sehr Mars im Vormarsch ist. Es ist wahrscheinlich, wenn es auch nicht

bewiesen werden kann, daß dieser zu dem Tode des amerikanischen Botschafters bei der VNO beitrug.

Stevensons Lebenslauf ist, für amerikanische Verhältnisse, nicht ungewöhnlich, war er doch weder Tellerwäscher noch Zeitungsjunge, sondern wurde vielmehr am 5. Februar 1900 in Los Angeles in eine Familie geboren, die dem amerikanischen Volk schon einige Politiker — sogar einen Vizepräsidenten — geschenkt hatte. Dienst in der Marine im letzten Abschnitt des ersten großen Krieges, die berühmte Prince-ton University, dann Reporter — das waren die Stationen seines curriculum vitae, bevor sich Stevenson dem Rechtsanwaltsberuf widmete. Im zweiten Weltkrieg war er Sonderassistent des Marinestaatssekretärs, reiste dann in verschiedenen heiklen Missionen durch das kämpfende Europa, erhielt schließlich jene Aufgabe, mit der sein Name für immer verbunden sein toird: Als Sonderbeauftragter des US-Außenministers Stettinius arbeitete er die organisatorischen Grundlagen für die Vereinten Nationen aus.

Im Dienst seines Landes bei dieser Organisation war Stevenson dann mehrere Jahre tätig, bis er 1948 zum Gouverneur von Illinois und vier Jahre später zum demokratischen Kandidaten für das höchste Amt im Staat gewählt wurde. Der glücklichere Gegenkandidat hieß Dwight D. Eisenhower, der den Unterlege-

nen nach seinem zweiten Wah.1-sieg zum Berater des State Departement für NATO-Organi-sationsfragen machte.

Für den sensiblen Diplomaten war die Spannung, die aus den Differenzen zwischen seinen privaten Ansichten und der offiziellen Linie, die er vertreten mußte, resultierte zweifellos eine große Belastung. Er war daher seiner Stellung müde geworden und strebte eine Rückkehr in das Privatleben an. Er zögerte angeblich nur deswegen mit seinem Rücktritt, um dem Präsidenten die großen Schwierigkeiten, einen geeigneten Nachfolger zu finden, zu ersparen. Vielleicht aber auch deswegen, weil er nicht das Ende einer Epoche, in der die Menschheit neue Hoffnung fassen durfte, dokumentieren wollte?

Natürlich war es großes Pech, daß er beide Male Dwight Eisenhower zum Gegner hatte, dessen ungeheure Popularität eines jener Phänomena ist, die die häufige Irrationalität des politischen Geschehens beweisen. Wahrscheinlich hätte er aber auch gegen irgendeinen anderen halbwegs bekannten und tüchtigen Gegenkandidaten verloren. Das amerikanische Volk wünscht sich einen aus hartem Holz geschnitzten Präsidenten, von dem es glauben kann, er träfe die gefährlichsten Entscheidungen mit unerschütterlicher Ruhe. Es mißtraut geistreichen Männern, die den Eindruck machen, daß sie aus Demut und Einsicht lange

um eine Entscheidung ringen müssen. Allerdings darf man auch nicht übersehen, daß Stevenson ein eigentümliches Handikap hatte, seine Ehescheidung. Diese nahmen ihm vor allem die amerikanischen Frauen übel.

Stevenson jedenfalls war zu bescheiden und zu skeptisch, um das Volk von seiner Eignung für das höchste Amt des Staates zu überzeugen. Überall, auch in seinem eigenen Charakter, sah er, daß es zwei Seiten gibt. Man glaubte ihm daher auch, daß er die Nominierung zur Präsidentschaft nur aus Pflichtgefühl annahm. In seiner noblen Annahmerede sagte er, ihm wäre lieber gewesen, dieser Kelch wäre an ihm vorbeigegangen. Bei jedem anderen Politiker hätte man eine solche Bemerkung als überspitzte Heuchelei angesehen. Aber, man gibt das Amt lieber Politikern, die sich darnach drängen, wenn auch nicht zu offensichtlich.

Statt zu einem Volksführer wurde er zum Gewissen der Regierung, nicht der Nation, denn das verbot ihm seine Stellung. Der Vorname Adlai kommt aus dem alten Testament und bedeutet der Gerechte. Diesen Namen empfand er als Verpflichtung. Wurde er abberufen, weil die Zeiten der Gewissenserforschung vorbei sind? Nicht die Gerechten regieren die Stunde, sondern Mars.

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