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Bundesminister Heinrich Himmler?

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Wir möchten den Mitgliedern unserer Bundesregierung gratulieren. Sie haben Zuwachs bekommen. Ob sie es zur Stunde schon wissen oder nicht — ein neuer Mann hat in ihrer Mitte Platz genommen. Ein neuer Mann? Eigentlich ganz neu ist er nicht. Er hört auf den nicht unbekannten Namen Heinrich Himmler.

Was soll der Unsinn? Das fragen wir uns auch. Aber Heinrich Himmler im Kabinett der Republik Österreich: das ist kein verspäteter und wenig geschmackvoller Faschingsscherz irgendeines Kabarettisten, es ist vielmehr die schlichte Meinung einer Wiener Angestellten in verantwortlichen Position. Auf die Frage: „Kennen Sie den Namen Heinrich Himmler?“ entschloß sich die Gefragte nach einigem Schweigen zunächst, diesen in die Kategorie der „Politiker“. einzuteilen. Als der Fragesteller etwas dringlicher wurde und Konkreteres über Herrn Heinrich Himmlers Aufgaben- und Wirkungsbereich zu erfahren wünschte, antwortete die holde Jüngerin Merkurs kurz und bündig: „No, in der Regierung.“ Hier muß das Gesicht des Interviewers doch etwas betreten gewesen sein, denn unsere aufgehende Leuchte des kommerziellen Leberts' setzte nach einigem Zögern hinzu, sie sei nicht ganz sicher, ob er dem gegenwärtigen Kabinett noch angehöre. Also nicht Bundesminister Heinrich Himmler, sondern Bundesminister a. D. Heinrich Himmler. Ansonsten wußte die Befragte über jenen Herrn kein Sterbenswörtchen zu berichten. Woher auch? Nicht in allen Häusern pflegt man über eine Vergangenheit, die vor nicht ganz zwei Jahrzehnten blutige Gegenwart war, im trauten Familienkreis zu sprechen. In den österreichischen Schulen hat man erst in jüngster Zeit sehr schüchterne Versuche unternommen, sich der Zeitgeschichte zu stellen, und in den einschlägigen Zeitungen, die auch junge Angestellte in leitender Position nicht verschmähen, erfahren sie zwar alles über Marilyn Monroe, Toni Sailer und Prinzessin Margaret, aber sehr wenig über einen Herrn mit dem nichtssagenden Namen Heinrich Himmler.

Die Frage und die doch etwas überraschende Antwort war nur ein Intermezzo aus dem neuesten Gespräch, das Heinz Fischer-Karwin im Österreichischen Rundfunk mit Herrn und Frau Jedermann führte. Mit Herrn und Frau Österreicher! Diesmal aber waren die Gespräche besonders lehrreich. Der Kreis der Fragen war weit gesteckt, er umfaßte alle Lebens- und Wissensgebiete einer durchschnittlichen Allgemeinbildung.

Der Einwohnerzahl Österreichs galt die erste Frage. Hier fielen die Antworten der zehn Befragten noch durchschnittlich befriedigend aus. „Sieben Millionen“ war die am öftesten ge- gegebehe Auskunft. Die genaue Zahl nannte allein ein Mittelschulprofessor — er stolperte später bei der Frage nach der Anzahl der Staatssekretäre in der Regierung. Ein Hochschüler eilte der Zeit voraus und nahm die bei anhaltender Geburtenfreudigkeit in einigen Jahrzehnten zu erwartende Einwohnerzahl von 7,400.000 für die Gegenwart vorweg. Ein Kaufmann wieder übte sich in der Tugend des „Uriterspielens“. 2,600.000 Österreicher: das ist uns doch ein bißchen zuwenig. Immerhin: mit den geographischen Grundbegriffen ging es im großen und ganzen ganz gut. Die nächste Frage war eine Fangfrage: „An welche Bundesländer grenzt Liechtenstein?“ Die Mehrzahl der Befragten tappte auch prompt in die Falle. „An Vorarlberg und Tirol", lauteten ihre Antworten. Nicht verschwiegen soll werden, daß es auch vier Interviewte gab, die sich mit Vorarlberg begnügten. Dafür placierte eine Junge Angestellte das liebenswürdige Fürstentum vom jungen Rhein in die Karawanken und ließ Kärnten und Steiermark daran grenzen. Ein Landwirt brachte das geographische Kunststück zustande, die Grenzen Liechtensteins mit jenen von Vorarlberg und Salzburg begegnen zu lassen. Die Frage nach den Namen von drei Salzkammergutseen zeigte die Interviewten in Hochform. Sie antworteten beinahe im Chor zufriedenstellend. Daß unsere junge Kassachefin, die uns Heinrich Himmler als Bundesminister bescheren möchte, den Achensee ins Salzkammergut übersiedelte und eine andere Befragte, wahrscheinlich auf Grund von zu viel Schlagerkonsum, sich nicht mit dem Mondsee begnügte, sondern diesen in einen Mondscheinsee verwandelte, sei am Rande vermerkt. Im großen und ganzen zeitigen aber Tourismus und Fremdenverkehr ihre Wissensfrüchte. Auch mit Frau Musica steht man in Österreich nach wie vor auf gutem Fuß. Auf die Frage nach einem Werk von Haydn blieben nur wenige die Antwort schuldig. Die Mehrzahl jener, die positive Antworten gaben, nannte als Opus des Meisters interessanterweise die „Schöpfung". Ein Elektriker sei erwähnt, weil sich die Haydn-Messe am stärksten seinem Gedächtnis eingeprägt hat. Einzig und allein ein Hochschüler verirrte sich in die „Eroica“-Gasse.

Ein Ausflug in die österreichische Geschichte verlief schon viel weniger glücklich. Feldmarschalleutnant Daun, dessen erzenes Standbild gleich anderen Paladinen das Denkmal Kaiserin Maria Theresias ziert, ist den Österreichern des Jahres 1961 ein Unbekannter. Die Frage, wem die Daungasse im 8. Wiener Gemeindebezirk ihren Namen verdankt, löste allgemein peinliches Schweigen aus. Nur der Mittelschulprofessor, ein Kaufmann und ein Landwirt gaben von den Befragten eine richtige Antwort. Ein Medizinstudent und eine junge Angestellte verwechselten den Haudegen des 18. Jahrhunderts mit dem Verfasser des Romans „Ein Kampf um Rom“. Ihre prompte Gegenfrage auf den Namen Daun lautete: „Sie meinen Felix…" Eine junge Hausfrau aus demselben Bezirk, in dem sich die Daungasse befindet, antwortete prompt: „Das weiß ich nicht, ich wohne noch nicht solange dort", um schließlich, wenn auch zögernd, die Vermutung zu äußern, es müsse sich bei Daun am ehesten um einen Gemeinderat handeln. Eine junge Angestellte wieder entschied sich dafür, daß die Daungasse nach einem Ort in Niederösterreich benannt sei. Den Vogel schoß aber wiederum ein Hochschüler ab, der Zusammenhänge zwischen der Wiener Daungasse und dem Nervenzentrum der englischen Politik feststellen zu können glaubte, das er in der „Down(ing) Street“ lokalisierte.

Stehen die Österreicher unserer Tage mit ihrer Geschichte schon auf keinem guten Fuß, so stoßen alle Fragen, die die jüngste Vergangenheit oder die politische Gegenwart betreffen, ins absolute Nichts vor.

Eine Antwort auf die Frage: „Kennen Sie den Namen Heinrich Himmler?“ haben wir schon zitiert; aber auch die anderen waren alles andere als uninteressant. Hören wir uns an, welche Spuren die düsterste Zeit unserer Geschichte hinterlassen hat;

Medizinstudent: ein Draht zieher der NSDAP … hatte mit Propaganda zu tun“ Elektriker: „ … aus dem deutschen Regime … Innenminister …"

Junge kaufmännische Angestellte: „Himmler? Nein, den kenn’ ich nicht … diesen Namen habe ich noch nie gehört … ein Schauspieler? Neįp, jemand von unserer Regierung . . . Politik interessiert mich nicht…"

Mittelschulprofessor: „Reichsführer SS.“

Hausfrau: in der Nazizeit…

irgendwie mit der SS …"

Kaufmann: „Reichsführer SS."

Junge Angestellte: „Himmler? … glaube, das war ein Deutscher … in der Zeit von Hitler … Was er gemacht? … Weiß ich nicht.“

Landwirt: „Reichsführer SS … Der Reichsheini."

Hochschüler: „Unter dem Nationalsozialismus . . . hat den Reichstag über gehabt…"

Die Zahl der Staatssekretäre in der Bundesregierung wurde allein vom „Musterschüler“, dem Mittelschulprofessor, auf den ersten Anhieb mit vier richtig angegeben. Bei der genauen Auskunft, in welchen Ministerien Staatssekretäre amtieren, von den Namen zu schweigen, stolperte auch er. Die normalen Antworten schwankten zwischen dem Schreckensruf : „Um Gottes willen, woher soll ich das wissen!“ unserer schon mehrmals zitierten jungen Österreicherin über das „Da kommen Sie gerade recht bei mir!" der kaufmännischen Angestellten bis zum kategorischen, ja beinahe abweisenden „Weiß ich nicht! Interessiert mich nicht!“ Bei den interviewten Damen klang mitunter der' Unterton mit, so etwas frage man nicht eine anständige Frau.

Da halten wir also. Im Jahre des Heils 1961, im Jahre 16 nach dem Ende der bisher größten Menschheitskatastrophe und der Wiederausrufung der Republik Österreich! Hier halten wir und blicken in den tiefen, dunklen Schlund des Unwissens, mehr noch: der mitunter bewußt zur Schau getragenen Ignoranz. Man schelte nicht Herrn und Frau Jedermann, die uns in diesen Gesprächen besser über die geistige Situation in unserem Volk Auskunft gaben als schöntönende Festreden und zahlenüberladene Statistiken. Irgendwo stimmt hier etwas nicht. Ein Volk, das nicht weiß, woher es kommt, ist ein Volk, das nicht weiß, wohin es geht. Gemächlich lebt es, jeder geistigen und politischen Anforderung ungewohnt und deshalb abhold, in den Tag. Es genießt gedankenlos das „Brot“ auf den gedeckten Tischen und es erfreut sich der zahlreich Vorhandenen „Spiele". Das Benzin kommt kanisterweise hinzu.

Das alles mag viele gar nicht besonders aufregen. Was aber dann, wenn man diesem „guten Volk“ fürs erste nur einmal das Benzin wegnimmt! Es hätte in der gegenwärtigen Situation schwerwiegende Folgen als in den dreißiger Jahren der Verlust des Arbeitsplatzes.

Wenn man es so recht bedenkt, muß man sich sehr wundern, daß so viele in Österreich so gut schlafen können.

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