6732638-1966_05_10.jpg
Digital In Arbeit

CSR — Schicksal einer Staatsidee

Werbung
Werbung
Werbung

DIE BÖHMISCHE ZITADELLE. Von Christian Willtrs. Verlar Fritz Molden, Wien, 1985. 618 Seiten.

Im Oktober 1918 wurde Böhmen, dessen Randgebirge „von Gott und der Natur eine Vormauer Unseres Königreiches sind” (Leopold I. an seinen königlichen Prokurator, 1681), wieder zum Sitz eines unabhängigen Staates. Als sich dieser Umsturz zum zwanzigstenmal jährte, war die Zitadelle gefallen, in Leitmeritz wehten deutsche Fahnen. Als sich der Umsturz zum dreißigstenmal jährte, waren die Fahnen der deutschen Wehrmacht zwar in den Straßenkot von Moskau getrampelt worden, aber die Zitadelle war wieder einmal, was die Ausdrucksweise des mittelalterlichen Wehrwesens „ein offenes Haus” nannte: die Zitadelle stand einer Schutzmacht zur Verfügung.

„Es ist auffallend” — hätte Alfred Kerr gesagt. Diesen auffallenden Ablauf der Ereignisse zu erklären, ist die Aufgabe dieses Buchs. Den Inhalt dieser Erklärung kann man in wenigen Worten zusammenfassen. Ohne über die Tschechen Kollektivurteile fällen zu wollen (er fällt sie ja auch über die Deutschen nicht; er weiß sehr wohl, welche Blutopfer tschechisches Soldatentum in der „Battle of Britain” und an der Dukla — dort freilich auch infolge der merkwürdigen waffenbrüderlichen Führung — gebracht hat), sagt der Autor klärlich: an all dem ist die Kleinmütigkeit der tschechischen politischen Führer schuld. Er vergleicht die Haltung der österreichischen Führer Anno 1950 mit jener der tschechischen fünf Jahre vorher und findet es natürlich, daß die Österreicher einen Staatsvertrag bekamen, während Böhmens Verhältnis zur Sowjetunion — wie hieß es doch zur Zeit unserer Kindheit? — „ausgebaut und vertieft” wurde.

In Einzelheiten wird man mit dem Verfasser rechten können. Er gerät manchmal etwas zu sehr in die Nähe jener antitschechischen Polemisten, die sich nicht klargeworden sind, ob sie die Tschechen als Hochverräter verwerfen sollen, weil sie gegen Österreich gekämpft haben, oder als servile Angsthasen, weil sie gegen Österreich nicht gekämpft haben… Auch mag man darüber streiten, wie und wie lange die Tschechoslowakei sich hätte wehren können, nachdem einmal — nicht zuletzt infolge der Österreich-Politik von Beneš und Fieriinger — die deutsche Wehrmacht kampflos bis Engerau gekommen war. Doch dem sei wie es wolle. Über die Lehren des Buches mag sich jeder seine Meinung bilden, jedenfalls aber ist ihm jeder Leser Dank schuldig für die Menge wenig bekannter Einzelheiten, die hier geboten werden.

Die tschechoslowakische Geschichtsschreibung hat — mehr noch vielleicht, als das in anderen Ländern zu sein pflegt — die Macht eines offiziösen „textus receptus” zu fühlen bekommen. Nicht als ob es unter der Republik möglich gewesen wäre, mißliebige Schriften schlechthin zu verbieten oder zu verbrennen, da sei Gott vor! Aber irgendwie gelang es, sie aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, und Bücher wie die Erinnerungen von Masaryks Gegner Dürich wurden nur im kleinen Kreis, fast wie unzüchtige Druckwerke, weitergereicht. Was in dieser Beziehung möglich wurde, als die vom Dritten Reich ererbte Papierbewirtschaftung jede Möglichkeit einer Drucklegung in die Hände der Regierung legte, kann man sich ausrechnen. Der Erfolg, zumal dem Ausland gegenüber, ist beachtlich, und dort sind gewisse dunkle Ecken der böhmischen Geschichte fast unbekannt. Hier bringt Willars sehr viel Neues.

Um es ausdrücklich zu sagen: sein Buch ist eine scharfe Kritik an der tschechischen Führung, aber alles andere denn eine Apologie jener Führung, die an der Spitze • Deutschlands stand. Im Gegenteil. Der Autor macht es deutlich, wie Heyd- rich & Co. zu Nutz und Frommen des nachmaligen Regimes die anti- kommunistischen Kräfte Böhmens schwächte und auszurotten begann — was um so weniger wundernimmt, als ja Hitler den deutschen Adel abzuschlachten begonnen hat —, er macht es begreiflich, wie der Nazismus alles tat, um auch die Nerven ruhiger Menschen zu sinnloser, unzurechnungsfähiger Wut aufzupeitschen. Ein klassisches Selbstzeugnis sind da die Maueranschläge vom April 1945, worin den bedauernswerten Volkssturmleuten gesagt wurde: Ihr wißt ja, was wir angestellt haben, ihr wißt, wie die Tschechen fühlen, ihr wißt, was euch bevorsteht, also wehrt euch!… Nur standen hiefür bestenfalls, und nicht einmal, Besenstiele zur Verfügung, so daß der ganze Volkssturm zu nichts als zum Vorwand blutiger Eingriffe gut war. Nun, das ist wieder eine andere Geschichte.

Das Buch von Willars wird gewiß eine lebhafte Diskussion auslösen, und manches wahre und falsche Gegenargument kann sich der sachkundige Leser im voraus ausrechnen. Möge der Streit zum besten der geschichtlichen Wahrheit enden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung