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Das Atom auf der Ringstraße

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RUND 18 MONATE beherbergt die Stadt Wien in ihren Mauern nun die IAEO (Internationale Atomenergie-Organisation), im Volksmund geläufiger als „Atombehörde“ bekannt. Rund 18 Monate hören wir davon, daß Wien zur Atomweltstadt wurde. Wenige stellten sich bisher die Frage: Sind wir wirklich schon so weit?

Mit der Wahl der österreichischen Bundeshauptstadt zum Sitz dieser internationalen Behörde schien dies in den Augen der Allgemeinheit besiegelt. Die Sorgen und Probleme rund um die IAEO aber deuten eher auf das Gegenteil hin. Der französische Chefdelegierte Pierre Cou-ture hat heuer auf der Generalkonferenz im Grand-Hotel eine Lanze für Wien gebrochen, als die Zusammenarbeit mit anderen Spezialorganisationen der Vereinten Nationen sowie die Errichtung von kleineren Laboratorien der IAEO zur Debatte stand: „ ... que la ville de Vienne qui a genereusement offert ä l'Agence son cadre accueillant doit tendre a devenir la capitale internationale de la collaboration dans le do-maine atomique.“ („ ... daß die Stadt Wien, die der Behörde in großzügiger Weise freundliche Aufnahme gewährt hat, versuchen soll, die Welthauptstadt für die Zusammenarbeit auf dem atomaren Gebiet zu werden.“)

Wodurch wird nun die Funktion Wiens als Atomhauptstadt noch in Frage gestellt? Um auf diese komplexe Frage eine Antwort zu finden, muß man sowohl die Tätigkeit der IAEO im allgemeinen als auch ihr praktisches Verhältnis zum Gastland Oesterreich in Betracht ziehen.

Es hat in Oesterreich — wie anderswo — an kritischen Stimmen in diesen Belangen nicht gefehlt. Am schärfsten drückte sich wohl der „Wiener Börsen-KurieT“ aus, der am 18. Oktober 1958 unter dem Titel „Leerlauf bei der Atombehörde?“ schrieb:

„Von einer produktiven Tätigkeit der Behörde wurde so gut wie nichts bekannt, und auf der Konferenz der Atomwissenschaftler in Kitzbühel haben die dort versammelten Kapazitäten unverhohlen ihrem Mißbehagen darüber Ausdruck verliehen, daß bisher nur ganz minimale Resultate zu verzeichnen sind. Sie beschränken sich, wie man vernehmen konnte, lediglich auf organisatorische Vorarbeiten, auf die Führung von Verhandlungen mit nicht sichtbarem Ergebnis, auf das Engagement eines zahlreichen Personals nebst Ausarbeitung eines genauen Gehalts- und Vorrückungs-schemas für dasselbe ...“

IN IHREM ERSTEN TÄTIGKEITSJAHR hat die Behörde, wie auch von ihren eigenen Beamten eingeräufnt wurde, erst eine Anlaufzeit überwinden müssen. Auf der diesjährigen zweiten Generalkonferenz hat man dann nicht nur das Budget verdoppelt, sondern auch konkrete Projekte ins Auge gefaßt:

1. Lieferung von spaltbarem und Ausgangsmaterial;

2. Koordinierung und Aufstellung von Vorschriften auf dem Gebiete des Gesundheitsschutzes und der Unfallverhütung;

3. Ausbildung von technischem und wissenschaftlichem Personal;

4. technische Hilfeleistungen an weniger entwickelte Länder;

5. Austausch und Vorbereitung von Informationen.

Mehrere Mitgliedstaaten hatten der IAEO schon auf der Generalkonferenz 1957 großzügige Angebote an spaltbarem Material gemacht, aber paradoxerweise waren bisher keine Ansuchen eingegangen. Nun trat Japan als erstes Land an die IAEO mit dem Ersuchen heran, ihm drei Tonnen natürlichen Urans zum Gebrauch von Reaktoren für friedliche Zwecke zur Verfügung zu stellen.

Auf dem Gebiete des Gesundheitsschutzes und der Unfallverhütung ist von der Behörde die Herausgabe einer Reihe von Handbüchern vorgesehen, von denen eines bereits vom Gouverneursrat provisorisch angenommen wurde. Dieser Arbeit kommt ohne Zweifel große praktische Bedeutung zu. Sie soll nicht nur der Forschungsarbeit der Organisation zugute kommen, sondern ist auch als Leitfaden für nationale oder regionale Vorschriften einzelner Länder oder Staatengemeinschaften gedacht.

Besonderes Gewicht wird der Ausbildung von Fachkräften beigemessen. Ein großer Teil der für einen „Allgemeinen Fonds“ vorgesehenen 1,5 Millionen Dollar soll im kommenden Jahr auf Stipendien aufgewendet werden. Unter den Stipendiaten befinden sich auch einige Oesterreicher.

Zu einer regelrechten Revolte traten auf der letzten Generalkonferenz die unterentwickelten Länder unter der Führung Pakistans und Marokkos an. Sie verlangten den Bau von Leistungsreaktoren in ihren Ländern, während die IAEO sich zunächst auf experimentelle Forschungsreaktoren einstellen wollte. Während nun der indonesische Chefdelegierte, Dr. Sudjarwo, der als Präsident dieser Konferenz fungierte, die „Ungeduld“ dieser Staatengruppe, der er ja selbst angehörte, etwas dämpfte, beschloß die

IAEO einstimmig, dem Bedarf an Atomkraftwerken in diesen Gebieten Rechnung zu tragen. Vorläufig will man sich auf verschiedene technische Hilfeleistungen verlegen.

EINDRINGLICH GEWARNT hat Generaldirektor Sterling Cole seine amerikanischen Landsleute davor, durch mangelnde Unterstützung der IAEO, deren Gründung seinerzeit auf Vorschlag Präsident Eisenhowers erfolgte, sie an der Erreichung ihrer Ziele oder selbst an ihrem Fortbestand zu hindern. Cole bezeichnete (laut „New York Times“ vom 13. November) in einem öffentlichen Vortrag in Washington die bilateralen Abkommen über fortgesetzte Gewährung atomarer Hilfe, mit der die internationale Behörde umgangen würde, als „Achillesferse der IAEO“. Solche Abkommen zwischen den Atömgroßmächten und einzelnen Empfängerländern seien ursprünglich nur als provisorisch angesehen worden und wären nach Gründung der IAEO zu beenden gewesen. Statt dessen gewährten die USA allein an rund vierzig Staaten, die Sowjetunio.il an zwölf bis achtzehn und Großbritannien an zehn bis zwölf Staaten weiterhin atomare Hilfe auf bilateraler Grundlage.

Sollte man den Zusammenbruch der Behörde zulassen, so erklärte der Generaldirektor der IAEO, würde die Welt eine Chance verlieren, die Erzeugung spaltbaren Materials für ausschließlich friedliche Zwecke zu gewährleisten.

ÖSTERREICH BEGRÜSST ES TROTZ ALLER BEDENKEN, daß es die „Atombehörde“ als Gastland aufnehmen konnte, wenn auch alle

Erwartungen nicht in Erfüllung gegangen sind. Vom österreichischen Standpunkt aus verspricht die Förderung der Forschungsreaktoren durch die IAEO mehr als der Bau von Leistungsreaktoren. Forschungsaufträge der Organisation haben aus rein geographischen Gründen bessere Chancen, an das Gastland vergeben zu werden. Eine Bevorzugung unseres Landes bei der Errichtung von Leistungsreaktoren wird niemand voraussetzen. Die Behörde muß ja bestrebt sein, den weltweiten Bedürfnissen nachzukommen.

Leider fand der Vorschlag der österreichischen Delegation auf Errichtung einer Atomuniversität in Wien keine günstige Aufnahme auf der Generalkonferenz. Dies würde die Planung ausgedehnter Grundforschungsanlagen voraussetzen, die im gegenwärtigen Stadium als „verfrüht“ angesehen werden.

Die ersten Forschungsaufträge, die die Organisation zu vergeben hatte, gingen nach Oesterreich. Dabei handelt es sich um Untersuchungen über die Einwirkungen atomarer Strahlungen auf die Biosphäre, womit das Chemische Institut befaßt wurde, sowie über die Strahleneinwirkungen auf die lebende Materie, die am Pharmakologischen Institut studiert werden.

Mit dem Physikalischen Institut wurde hinsichtlich der Errichtung einer zentralen Fachbibliothek die Zusammenarbeit angebahnt.

WÄHREND DAS GROSSZÜGIGE VORGEHEN der Bundesregierung gegenüber der

IAEO voll anerkannt wurde, ließen manche internationale Beamte Klagen laut werden. Den einzelnen Angestellten der Behörde bereiten die Wohnverhältnisse in Wien manche Sorge. Sie beklagen sich darüber, daß man sie zu hohe Mieten bezahlen läßt. Auf der anderen Seite aber darf man nicht übersehen, daß sich der Eeamtenstab der Behörde zu einer privilegierten Schicht im Staate zu entwickeln droht, die sich nicht nur eines überdurchschnittlich hohen Einkommens erfreut, sondern auch ihre Bedarfsgüter in Sonderläden — nach allzu bekannten Vorbildern — zu decken vermag, anstatt ihr Einkommen der österreichischen Wirtschaft zufließen zu lassen. Kein Wunder, daß solche Verhältnisse vom österreichischen Durchschnittsbürger als diskriminierend empfunden werden.

ES WERDEN NOCH VIELE ATOME GESPALTEN WERDEN und es wird noch viel Wasser die Donau hinabfließen, ehe Wien in vollgültigem Sinn zur Atomhauptstadt der Welt herangereift ist. Viel werden die Atomgroßmächte dazu tun müssen, damit die Weltgeltung der Behörde nicht in Frage gestellt wird. Viel aber wird die internationale Behörde selbst dazu beitragen müssen, um ihrem Aufgabenkreis gerecht zu werden und .um auch die volle Harmonie mit ihren österreichischen Gastgebern allezeit zu wahren.

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