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Die Memoiren Churchills

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Diese Auffassung bestätigt Churchill, indem er den Hergang und die Wirkung des nazistischen Einbruchs in die entmilitarisierte Rheinlandzone und der Vergewaltigung Österreichs sowie der Tschechoslowakei untersucht. Der deutsche Diktator gestandes bekanntlich selbst am 12. Februar 1938 dem Bundeskanzler Schuschnigg, daß er im ersten dieser drei Fälle, wenn Frankreich mobilisiert hätte, zum Rückzug gezwungen gewesen wäre, und es läßt sich denken, daß dies bei der damaligen Opposition gegen Hitler in den höchsten deutschen Militärkreisen leicht das Ende des Naziregiments hätte bedeuten können. Churchill stellt übrigens fest, daß die Regierung Sarraut- Flandin zur Mobilisierung der französischen Armee entschlossen war, daß ihr aber von London abgewinkt wurde, wo damals (März 1936) noch Baldwin am Ruder war, der stark unter dem Einfluß des Schatzkanzlers Neville Chamberlain stand. Es unterliegt heute auch keinem Zweifel, daßes im März 1938 zu dem Handstreich gegen Österreich nicht gekommen wäre, hätte Hitler nicht im November zuvor aus einer Unterredung mit Lord Halifax, der zu jener Zeit als Jagdgast Görings, des Schlächters der deutschen Bartholomäusnacht vom 30. Juni 1934. in Deutschland weilte, die Überzeugung gewonnen, daß die britische Regierung für die Selbständigkeit Österreichs keinen Finger rühren würde. Und auf dem Höhepunkt der sudetendeutschen Krise waren, wie man jetzt weiß, von einem Kreis höchster Militärs in der Umgebung Hitlers schon alle Vorbereitungen zur Beseitigung des Despoten aus Braunau getroffen, als Chamberlain mit der Ankündigung seines Besuchs die Verschwörer entwaffnete.

Der weitaus größte Teil der Verantwortung für diese Politik der Schwäche fällt Neville Chamberlain zu. Churchill übt daher auch an der Führung der Staatsgeschäfte durch diesen zweifellos fähigen und gutwilligen Mann, den er selbst einmal mit einem Shakespeareschen Worte das „Lastpferd unserer großen Dinge“ genannt hatte, in der Sache eine vernichtende Kritik, wenn auch in der Form immer mit vollendeter „fairneß“. Als Roosevelt im Jänrir 1938 alarmierende Nachrichten über die deutschen Pläne Österreich gegenüber erhielt, fragte er in London an, wie sich die britische Regierung zur Einberufung einer Fünfmächtekonferenz (USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien) nach Washington verhalten würde. Chamberlain gab hinter dem Rücken seines Außenministers Eden eine ausweichende Antwort, was der Anstoß zum Rücktritt Edens werden sollte (20. Februar 1938).Chamberlain begründete seine Bedenken damit, der amerikanische Vorschlag würde die damals von ihm persönlich betriebene direkte Verständigung mit Mussolini stören, zu der es dann gar nicht kam. Wenige Tage nach der Besetzung Österreichs regten die Russen eine Konferenz mit den Vertretern Großbritanniens und Frankreichs zu dem Zwecke an, gemeinsame Maßnahmen im Rahmen einer Völkerbundaktion für den Fall einer ernsten Friedensbedrohung zu beschließen. Auch dieser Vorschlag scheiterte an dem Widerstande Chamberlains, der einwandte, ein englisch-französisch-russisches Abkommen würde „jene Tendenz zur Bildung ausschließlicher Staatengruppen verschärfen, die den Aussichtendes europäischen Friedens nur abträglich wäre“. Dazu bemerkt Churchill: „Es muß darauf hingewiesen werden, daß das Argument vom Nachteil .ausschließlicher Staa- tengruppen“ seine Gültigkeit verliert, wenn die Alternative darin besteht, daß ein Staat nach dem andern von der Angreifermacht vernichtet wird. Außerdem übergeht es sämtliche Fragen von Recht und Unrecht in den internationalen Beziehungen.“ An dieser Stelle wie an vielen anderen in diesem ersten Bande der Churchillschen Memoiren springt die Exemplifikation zur gegenwärtigen europäischen Lage in die Augen. So heißt es im Zusammenhang mit Ausführungen darüber, wie leicht der zweite Weltkrieg zu vermeiden gewesen wäre:

„In ihrem Abirren vom Ziel, im Aufgeben der mit größter Ehrlichkeit angenommenen Richtlinien .ließen England, Frankreich und vor allem die Vereinigten Staaten mit ihrer Ungeheuern Macht und Unparteilichkeit es zu, daß langsam Verhältnisse geschaffen wurden, die den von ihnen am meisten gefürchteten Höhepunkt herbeiführten. Sie brauchen nur dasselbe wohlmeinende, kurzsichtige Verhalten gegenüber den neuen Problemen zu wiederholen, die heute mit eigentümlicher Ähnlichkeit vor uns treten, um eine dritte Katastrophe auszulösen, deren Verlauf vielleicht kein Überlebender wird erzählen können.“

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