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Justiz auf der Anklagebank

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Die Urteile, welche die französischen Gerichte im Schnellverfahren fällen, werden von der Nation nicht ohne weiteres anerkannt. Die Bewegung der Kontestierung überspringt die Gitter der Justizpaläste, dringt in die Wandelgänge der Gerichte ein und erzeugt bei Richtern, Staate- und Rechtsanwälten eine beachtliche Malaise. Einzelne mutige Juristen, wie der bekannte Casamayor, recte Serge Fuster, Rat am Pariser Appel-lationsgericht, plädieren seit Jahren für eine Reform der französischen Justiz. Wie die Statuten der Universitäten stammen die Strukturen der Justiz aus den Zeiten Napoleons und überlebten Weltkriege und Republiken. Das gaullistische Regime glaubte, mit dem üblichen Gerichtshof nicht auszukommen, und schuf die politischen Sondergerichte, die im Zuge der algerischen Tragödie Generäle und Obersten aburteilten, welche die Autorität des Staatschefs bedrohten. Durch den politischen Prozeß des Präfekten Picard im Jahre 1968 mußte Frankreich das weitere Funktionieren dieser außerordentlichen Gerichte zur Kenntnis nehmen.

Dann tritt ein Ereignis ein, es mag in wenigen Wochen wieder vergessen sein, das die Öffentlichkeit stärker bewegt als die Rufe eines Casamayor oder die gutgemeinten Reportagen der Massengazetten, die von dem „Skandal der Untersuchungshaft“ berichteten. Niemand hatte vorher den Arbeiter Andre Fourquet gekannt. Nach einer dramatischen Belagerung seines Landhauses, in dem er sich mit seinen zwei Kindern verbarrikadiert hatte, trat die Gendarmerie unter Verwendung größter Publizirtätsmittel zum Sturme an. Das Drama rolite sich blitzschnell ab. Der wahrscheinlich kranke Fourquet tötete seine Kinder und beging Selbstjustiz. Solche Fälle werden sich wahrscheinlich in allen Ländern ereignen, und die Akten derartiger blutiger Famiilientragödien verstauben in den Archiven der Gerichte. Was jedoch dieses Ereignis aus dem Alltag hervorhebt, ist die Bezugnahme auf die Methoden einer Justiz, die entsprechend dem Staatsdenken kein Mitleid kennt. „Die Justiz wurde beleidigt“, erklärte verlegen der kommandierende Gendar-merieoffizier, und deswegen wurden zwei unschuldige Kinder auf dem Altar der Staatsräson geopfert. Frankreich zeigt sich über dieses Drama zutiefst erschüttert. Die Abgeordneten der Opposition interpellierten den Juistizminister und verlangen dessen Demission. Humanitäre Vereinigungen und Gewerkschaften bekunden' ihr Mißbehagen über eine Ordnung, die so wenig Verständnis für die Belange des Individuums aufbringt.

Wenn schon Balzac erklärte, daß „der Untersuchungsrichter in Frankreich ebenso mächtig sei wie Ludwig XIV.“, wurde dies in der V. Republik noch unterstrichen. Nach vorsichtigen Schätzungen füllen jedes Jahr hunderttausend nicht verurteilte Personen die veralteten und übervölkerten Gerichte des Landes. Mehrere Tausende unter ihnen sind unschuldig oder erhalten bedingte Strafen. Es ist eine gern geübte Praxis der französischen Justiz, Schuldige in der Höhe ihrer Untersuchungshaft zu verurteilen. Es wurden Fälle bekannt, die unwahrscheinlich klingen, jedoch in Form und Inhalt diese Feststellung bestätigen. Falls ein Beschuldigter nicht über die Dienste eines Rechtsanwaltes verfügt, kann es passieren, daß man ihn im Dunkeln einer Zelle während 18 bis 20 Monate einfach vergißt.

Der Fall Fourquet wie die Affäre Jean-Marie Devaux dürften das auslösende Moment werden, um die französische Justiz zu modernisieren. Jean-Marie war ein sechzehnjähriger Bursche, als er wegen Mordes an einem kleinen Mädchen zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Der Gefängnisgeistliche Pater Robert Bayer, von Anfang an von der Unschuld des Gefangenen überzeugt, stellte schwerste Irregularitäten bei der Prozeßführung fest und mobilisierte bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und sogar den damaligen Justizminister Joxe für den jungen Mann. Die Justiz weigerte sich bis auf den heutigen Tag hartnäckig, und zwar wie es schön heißt, „im Interesse des Häftlings“, einen neuen Prozeß anzusetzen, obwohl gewichtige Elemente für eine Revidierung des Verfahrens sprechen.

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