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Wie bei Emile Zola..

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Wer die drei letzten französischen Republiken studiert, wird nicht nur große Namen finden, wie Clemen-ceau, Briand, Robert Schumian und General de Gaulle, er wird sich auch mit Personen beschäftigen müssen, die in eine Staatsaffäre verwickelt waren. Jedes Regime kennt so einen Fall, in dem sich die Justiz mit der Politik überschneidet und Verbreeher auf der Bildfläche erscheinen. Wer denkt da nicht unwillkürlich an das Schicksal des jüdischen Hauptmanns Dreyfus zurück, das gerade in den letzten Wochen durch einen vorzüglichen Dokumentarnim wieder in Erinnerung gebracht wird?

Nun kennt auch das Regime Gis-card d'Estaing eine solche Affäre, in welche sich allerdings die Parteipolitik nicht einmischt, aber die in erster Linie das Funktionieren des Justizapparates und den Einsatz wie die Rolle der Polizei betrifft. Aus einer banalen Angelegenheit, die als Vorbild für einen Roman Zolas oder Balzacs hätte dienen können, entstand eine Geschichte, die seit Wochen alle meinungsbildenden Kräfte des Landes mehr beschäftigt als Diskussionen um die Zukunft Europas oder der gemeinsamen Energieversorgung des Westens. Analysiert man das Geschehen rund um die Familie Portal, so taucht eine Fülle gesellschaftspolitischer Fragen auf. Zum Verständnis sei kurz die Genesis erzählt. Ein bereits seniler Aristokrat, Leonce de Portal, war Besitzer eines verlotterten Schlosses und wertvollen Grundbesitzes. Nach dem Kriege hatte er ein polnisches Flüchtlingsmädohen geheiratet. Dieser Ehe entstammen zwei Kinder, Marie-Agnes und Jean-Louis. Die beiden genossen fast keinen Schulunterricht und wuchsen in freier Wildbabn auf. Die Familie verschuldete sich immer mehr und führte unzählige Prozesse, wie sie die französische Landbevölkerung auch heute noch so Sehr liebt. Es dürfte ziemlich sicher sein, daß einer der Schuldscheine, von einem später wegen Betruges verfolgten Notar ausgestellt, eine Fälschung ist. Gerade diese Summe von 74.000 Francs führte aber zur Zwangsversteigerung. Die Polin und ihre Kinder — der Gatte war inzwischen gestorben und blieb, makabres Detail, Monate hindurch in seinem Sarg im ehelichen Schlafzimmer aufgebahrt — waren nicht bereit, den Verlust des Gutes einfach hinzunehmen. Das Schloß und die Äcker wurden zu einem skandalös niedrigen “ Preis angeboten und veräußert. Zwei Jahre lang verbarrikadierten sich die drei Menschen in dem düsteren Gemäuer. Nachdem Jean-Louis mehrfach Arbeiter des neuen Besitzers mit dem Gewehr bedroht hatte, marschierten am 10. Jänner 1975 siebzig schwerbewaffnete Gendarmen (weder die Maschinengewehre noch die Handgranaten fehlten) gegen das Schloß. Scharfschützen nahmen den Jungen, Jean-Louis, sofort aufs Korn und verwundeten ihn mit fünf Schüssen, denen er im Krankenhaus erlag. Die beiden Frauen wurden verhaftet und — Marie-Agnes lediglich mit einem blutverschmierten Nachthemd bekleidet — in das nächste Gefängnis abgeführt. Einige Tage später erklärten drei Psychiater die Frauen für unzurechnungsfähig und empfahlen, sie in eine Klinik einzuliefern.

Zuerst zögernd, dann immer stärker bemächtigten sich die Massenmedien des Vorfalls. Unter dem Druck einer mobilisierten öffentlichen Meinung verfügte Justizminister Lecanuet die Freilassung der beiden Opfer dieses Skandals. Somit war die erste Frage gestellt: sind die Damen Portal nun arme Irre, die nach einer Untersuchung, die nicht länger als fünf Minuten dauerte, für geisteskrank erklärt wurden oder sind sie normale Menschen, die lediglich um ihr Recht kämpften? Bisher war man es gewohnt, daß gesunde Personen nur in der Sowjetunion zu Narren deklariert wurden, wenn sie das herrschende politische System ablehnten.

Die französische Polizei, vom letzten Innenminister Pompidous in erster Linie dazu eingesetzt, die öffentliche Ordnung zu verteidigen, hat gegenwärtig keine gute Presse. Wohl ist es ihr unter Führung des dynamischen Innenministers Ponia-towsfci gelungen, die Gewalttätigkeiten einzuschränken und die Anzahl von Hold-ups tun 20 Prozent zu senken, aber noch werden viele Übergriffe der Ordnungshüter gemeldet

So tauchen urplötzlich mit der Affäre Portal all jene Fälle wieder a<uf, in denen schwache Personen unter die Räder der Rechtssprechung gerieten. Da kommen sie nun wieder: die junge Professorin, die angeblich einen, 17jährigen Schüler verführt hat und durch einen Einspruch der Staatsanwaltschaft in den Tod getrieben wurde; der kleine Junge, der Selbstmord beging, um seine Mutter zu befreien, die wegen einer Wechselschuld von 80 Francs zu mehreren Monaten unbedingten Gefängnisses verurteilt worden war. Er reicht seine tote Hand dem Jean-Louis Portal, der an falsch verstandenem Ehrgeiz das Gut seiner Familie retten wollte. Staatschef Giscard d'Estaing und Justizminister Lecanuet nehmen den Fall Portal zum Anlaß, um die lange erwarteten Reformen in der Justizverwaltung einzuleiten. Nach ihrer Ansieht soll die Justiz dem Menschen dienen und das Individuum nicht mehr den Paragraphen geopfert werden.

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