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Preisgabe Ostösterreichs ?

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Verzweifelte Gesichter sah man in den ersten Manövertagen bei der sich in der Melker Biragokaserne von der Öffentlichkeit hermetisch abschließenden Übungsleitung: Die Tatze des angreifenden Bären griff immer tiefer in das Alpenvorland und schien damit den eigentlichen Übungszweck zu gefährden: nämlich zu demonstrieren, daß auch ein Kleinstaat gegen einen angreifenden, übermächtigen Gegner nicht chancenlos ist.

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Verzweifelte Gesichter sah man in den ersten Manövertagen bei der sich in der Melker Biragokaserne von der Öffentlichkeit hermetisch abschließenden Übungsleitung: Die Tatze des angreifenden Bären griff immer tiefer in das Alpenvorland und schien damit den eigentlichen Übungszweck zu gefährden: nämlich zu demonstrieren, daß auch ein Kleinstaat gegen einen angreifenden, übermächtigen Gegner nicht chancenlos ist.

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Zunächst behalf man sich mit einer nicht vorgesehenen „Kriegslist“: Die den Angriff der feindlichen Panzer unterstützenden Jagdbomber wurden plötzlich den Verteidigern zugerechnet und gegen den Feind eingesetzt. Im Tiefflug brausten die Saab- Düsenjäger über die angreifende Panzerkolonne und brachten diese durch angenommenen Napalmeinsatz für einige Zeit zum Stehen. Dann wendete sich das Blatt; die Verteidiger gingen vom hinhaltenden Kampf zum Gegenangriff über, der Bär und sein Jäger verbissen sich ineinander, die Übung wurde abgebrochen, es gab weder Sieger noch Besiegte, der drohende Gesichtsverlust vor der Öffentlichkeit war im letzten Moment abgewehrt worden.

Tatsächlich blieb dem Bundesheer damit eine peinliche Blöße, wenn nicht überhaupt Infragestellung erspart; war doch die Übung „Bärentatze“ auf den grundsätzlichen Auftrag des Bundesheeres ausgerichtet. Weder die Bezeichnung der beiden Parteien noch die Wahl des Manövergebietes kamen von ungefähr: Das Bundesheer probte den Einsatz. Die operative Ausgangslage basierte auf der Annahme eines Oststaates (Partei Orange) und eines Weststaates (Partei Blau) im Übungsraum zwischen Donau und Alpenvorland.

Selbst für den militärischen Laien

war daraus mehr als deutlich zu erkennen, daß ein Oststaat sich des militärischen Vakuums Österreich. bemächtigen will, bevor ihm ein. NATO-Staat zuvorkommt. Das für einen Panzerangriff geradezu prädestinierte Ostösterreich sollte schnell duchstoßen, die zahlreichen Flüsse überwunden, der im Bereich der Voralpen konzentrierte Feind geschlagen werden.

Zwar gute Moral — aber

Die von den Bundesheerstrategen für den Staat Blau ausgearbeitete Ausgangslage war die Massierung starker mechanisierter Verbände an den Landesgrenzen. Blau mobilisierte, zog sich an strategisch wichtige Gebiete wie Ybbs, Erlauf und Enns zurück, um im Falle einer Aggression unverzüglich den Kampf aufnehmen zu können. Dadurch sollten günstige Voraussetzungen für einen Gegenangriff geschaffen werden.

Also auch hier die erkennbare Theorie vom hohen „Eintrittspreis“: Durch erbitterten Widerstand im

Voralpengelände und im Bereich wichtiger Flüsse sowie durch eine Art Partisanenkrieg im Rücken des Feindes sollte der Gegner so viel an Zeit und Material verlieren, daß sich ein weiterer Angriff nicht lohnt.

Nun, die Praxis führte allen Beteiligten mit erschütternder Deutlichkeit die wahre Situation vor Augen: Das jahrelange Sündigen, die geradezu masochistisch anmutende Behandlung unserer Landesverteidigung könnte dazu führen, daß im Falle des Falles Ostösterreich im

Handstreich genommen werden kann!

-Am Einsatzwillen dps österreichischen Soldaten mangelt es nicht. Die „Kampfmoral“ der bei den Manövern eingesetzten 12.000 Soldaten war, auch unter teilweise mehr als ungünstigen Bedingungen, großartig. Wer geglaubt hatte, viele der Präsenzdiener würden sich als „scheintot“ ausfallen lassen, um sich bequem ins Hinterland (sprich Kaserne) zurückzuziehen, wurde eines Besseren belehrt: lediglich ein halbes Prozent der übenden Truppe — das ist ein Drittel der durchschnittlichen Krankmeldungen in den Garnisonen — mußte ärztlich versorgt werden, sogar der von manchen mit gemischten Gefühlen erwartete Einsatz der Reservisten verlief über Erwarten gut

Vernichtung im Sandkasten

Aber selbst der aufopferungsvollste Einsatz der Soldaten konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die kurze Ausbildungszeit von neun

Monaten nicht mehr ausreicht, komplizierte Waffen und Geräte perfekt zu beherrschen und gefechtsmäßiges Verhalten anzuerziehen. Obwohl eine Hälfte der an den Manövern beteiligten Truppen bereits im achten Ausbildungsmonat stand, mußten immer wieder schwere Fehler im Verhalten der Soldaten festgestellt werden, die im Ernstfall nicht durch

ein „Ausgefallen!“ des Schiedsrichters, sondern mit blutigem Ernst geahndet würden.

Von der Übungsleitung wurden in einem ersten Kommentar diese Tatsachen etwas verschämt umschrieben: man war „mit der Führung auf Brigade- und Bataillonsebene zufrieden“, die Führung auf Kompanie- und Zugsebene war „gut, aber verbesserungsbedürftig“, worunter nichts anderes als eine versteckte Kritik am Ausbildungsstand gemeint sein dürfte. Darunter fällt auch der Mangel an Kaderpersonal, sowohl in

quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht.

Aber selbst die perfektest ausgebildete und aufopferungsvollste Mannschaft konnte nicht wettmachen, was an Ausrüstung und Material fehlt. Und hier öffnete der im Eilzugstempo vorgetragene Angriff der den Feind darstellenden 9. Panzergrenadierbrigade auch dem letzten Illusionisten die Augen. Wir verfügen nicht annähernd über jene Ausrüstung und über jene Waffen, die notwendig sind, einen Angriff, wie er von Bundesheerstrategen im Sandkasten und auf dem Kartenbrett entworfen wurde, abzuwehren. Der Österreicher wird sich doch entschließen müssen, etwas tiefer als bisher in die Tasche zu greifen, um unsere Verteidigungsanstrengungen glaubwürdiger und effektiver werden zu lassen. Sonst bleibt uns im Falle des Falles nur die Alternative, wie sie ein für sein stets offenes Wort bekannter Generalstabsoberst ausdrückte: „Preisgabe Ostösterreichs, Rückzug bis in die Alpen!“

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