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Südtirol: Legende und Historie

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In der öffentlichen Meinung des Auslandes, besonders aber in der großen Mehrheit auch gutgläubigster Italiener, spukt ejne zähe Legende. Nadi ihr soll die Unterdrückung der deutschsprachigen Minorität in Süd- iSröIrėirie psychofögls’ch nlüt zu Verständliche Reaktion auf die „historische Schuld“ sein, die das alte Kaiserreich Österreich durch die gleich strenge Behandlung der italienischen Minderheit auf sich geladen habe.

Die geschichtliche Wirklichkeit war anders.

Eijn mehr als achtjähriger Berufsaufenthalt außerhalb Österreichs hat midi für die Kritik an der österreichischen Heimat zwar nicht empfänglich, aber wesentlich mehr als die Gebildeten meiner Heimat hellhörig gemacht.

Zwei Fehlerquellen ergeben in der Hauptsache eine negative oder wenigstens weithin ungünstige Bewertung des geschichtlichen Österreich, das im großen und ganzen mit der absolutistischen monarchischen Ära gleichgesetzt wird: zunächst die verfassungspolitische Gleichbewertung des österreichischen Herrschaftsraumes einschließlich der Seitenlinien der Habsburger-Dynastie, die die italienische Bevölkerung beherrscht haben, mit der wesentlich verkleinerten und politisch gewandelten konstitutionellen Monarchie und sogar mit der Republik Österreich und die unkritische Gleichsetzung der Herrschaftsmethoden in dem am 21. Dezember 1867 der Eigenstaatlichkeit teilhaftig gewordenen Königreich Ungarn mit dem österreichischen Kaiserstaat.

Renner, Adler und der Kaiserstaat

Derartige Geschichtsklitterungen werden verständlicher, wenn selbst die 1848 begründete und 1867 stabilisierte konstitutionelle Monarchie als eine durch einen Scheinkonstitutiona- lismus getarnte Despotie gedeutet wird. Daß sich ehrliche Konservative, Liberale und selbst Sozialisten auf den Boden dieses Österreich gestellt und es durch eine bessere Ordnung des Nationalitätenproblems zu erhalten bemüht haben, wird selbst von wohlwollenden ausländischen Kritikern meist übersehen. Wenn ich als der vom Akademischen Senat beauftragte Sprecher der Universität Wien in der zu Ehren Karl Renners im Jänner 1951 veranstalteten Trauerfeier dieser Persönlichkeit, die die Eigenschaften eines Staatsmannes und Matines der Wissenschaft in sich ver einigt hat, das beharrliche Wollen zur Rettung und Sicherung des Vielvölkerreiches und den erst mit dem Todesurteil der , Geschieht aktuell gewordenen Willen zum Neubau des heutigen Österreich nachgerühmt habe, so glaube ich, diese Persönlichkeit nicht mißdeutet zu haben.

Doch selbst dAt weiter links stehenden Parteiführer Viktor Adler zeichnet nicht bloß der reimende Karikaturist des altösterreichischen Parlaments, H. Leoster, als einen Mann, der „den Umsturz wohl bewacht — die revolutionäre Tat vollbringt er als ein Diplomat“, sondern hat auch der be- rufenere katholisch-konservative Staatsmann Max Wladimir Frhr. von Beck in persönlichen Erinnerungen als grundehrlichen Behüter vor destruktivem Radikalismus gezeichnet.

Die Becksche Wahlreform von 1907 war ehrlich um die rechtliche Sicherung einer gerechten Koexistenz der acht das Staatsvolk bildenden Volksstämme bemüht.

Die Statistik hat bei dieser Mandatsverteilung in einer der Staatsführung erwünschten Weise gerade den italienischen Volksstamm begünstigt, also jenen, der der stärksten Anziehungskraft des benachbarten Nationalstaates ausgesetzt war und dank dem Ergebnis des ersten Weltkriegs zur „Mutter Italien“ heimkehren konnte: Ein deutlicher Beweis, daß politische Ideale durch rechtliche Vorteile nicht abdingbar sind, zumal wenn man berücksichtigt, daß die italienische Volksgruppe bereits in der ersten Gesetzgebungsperiode des 1867 bestellten Abgeordnetenhauses durch die Ernennung eines Vertrauensmannes zum k. k. Minister ausgezeichnet worden ist, und daß sie es war, die, zum Unterschied von allen anderen kleinen Volksgruppen (Rumänen, Kroaten, Slowenen, aber auch Ruthe- nen), eine, wenn gleich nicht als solche gewürdigte, Erfüllung ihrer Wünsche auf hochschulpolitischem Gebiet erfahren hat. Während nämlich drei Millionen Volkszugehörige als Vor- 'äussetzung für die Zubilligung einer Staatsuniversität galten, für die die Sprache der Volksgruppe Unterrichtsund Prüfungssprache war, und somit dem deutschen Volksstamm vier Universitäten, dem polnischen zwei, dem tschechischen eine (nebst den zwei technischen Hochschulen) zugebilligt worden waren, wurde nach Überwindung großer politischer Schwierigkeiten der italienische Volksstamm mit der Einrichtung von zunächst zehn

Lehrkanzeln mit italienischer Unterrichtssprache an der Universität Innsbruck abgefunden, aber nicht im entferntesten befriedigt.

Trotz aller Schönheitsfehler im Vergleich mit dem sozusagen ideal organisierten gemischt-nationalen Staat, der Schweiz, hat Österreichs konstitutionelle Rechtsordnung ein bei gutem Willen aller Volksstämme lebensfähiges und ausbaufähiges Kompromiß des übernationalen Staates bedeutet. Das durch eine Realunion mit Österreich verbundene Königreich Ungarn hat dagegen mit seiner Vorherrschaft der Madjaren über die anderen Nationalitäten (Deutsche, Kroaten, Rumänen und Slowaken) den Typus eines Staates mit einer einzigen herrschenden und im übrigen beherrschten Nationalität bedeutet.

Der Zeuge Degasperi

Die wenigen vorstehend angedeuteten Tatsachen sind im heutigen Österreich nicht einmal mehr Gemeingut geprüfter Juristen, geschweige denn der anderen Gebildeten. Darf man unter diesen Umständen die Vertrautheit mit diesen Tatsachen bei gebildeten Ausländern voraussetzen?

Bei einem Höflichkeitsbesuch deutete ein junger italienischer Dozent in einwandfrei korrekter Form an, daß die gegenwärtige italienische Intelligenz die Tatsache der rechtlichen Zurücksetzung der kleinen italienischen Minderheit im österreichischen Kaiserstaat noch nicht verwunden habe. Ich war zufällig in der Lage, meinen Besucher an Hand mehrerer auf meinem Amtschreibtisch befindlichen stenographischen Protokolle des Reichsrates von der nationalpolitischen Toleranz des zu Unrecht verdächtigten österreichischen Kaiserstaates zu überzeugen. In wenigen Augenblicken unterbreitete ich dem Besucher eine Interpellation der Abgeordneten der italienische Volkspartei des österreichischen Reichsrates, die zur größten Überraschung meines Besuchers in italienischer Sprache verfaßt war und in würdigen, energischen Sätzen das durch eine nicht zweisprachig verfaßte straßenpolizeiliche Kundmachung dargestellte Gravamen betraf und von dem damaligen Ministerpräsidenten Italiens und vormaligen österreichischen Abgeordneten Degasperi (und Genossen) gezeichnet war: Aufklärung durch unanfechtbare Tatsachen ist das wirksamste Gegenmittel gegen Voreingenommenheit und Verhetzung.

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