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Volk zwischen Ost und West

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Von den 168 Seiten dieses Werkes nimmt die Geschichte Ungarns von der Landnahmezeit bis zur Gegenwart mehr als hundert Seiten ein, der andere Teil ist der Revolution im Vorjahr gewidmet. Die Erzähler dieser Chronik der tausend Jahre und des Gestern sind keine Historiker, sondern politische Publizisten und György Faludy ein Uebersetzer westlicher Lyrik. Sie waren Verfolgte des Räkosi- Regimes und leben seit dem vergangenen Herbst in England. Sie gehören oder gehörten aber zu der politischen Linken, und ihr Ideal ist nicht das historische Ungarn, dessen Geschichte sie durch die Brille einer nationalistischen Linksideologie sehen, sondern die wenigen Monate einer demokratischen Republik unter Michael Graf Kärolyi, nach dem Ende des ersten Weltkrieges. Sie geben zu, daß dieses kurze Intermezzo mit einem Fiasko endete, da das Spiel „von vornherein verloren” war. Allerdings tragen dafür, nach ihrer Darstellung, die Schuld die ausländischen Mächte, die „der Reaktion und der bolschewistischen Wühlarbeit in die Hand arbeiteten”. Nach dem Neuanfang im Jahre 1945 war es nicht anders: „Die Intellektuellen und die Kleinbürger lebten im Rausch einer Scheinfreiheit und einer Scheindemokratie. Man darf es ihnen nicht übelnehmen: sie besaßen keinen richtigen Maßstab, da sie ebensowenig wie ihre Väter und Großväter in Ungarn je eine wirkliche Demokratie erlebt hatten …’ Und es offenbarte sich, „wie wenig der Wille der demokratischen Parteien und des ganzen ungarischen Volkes die Ereignisse beeinflussen konnte. Der russische General Swiridow, der Vorsitzende der Alliierten-Kontrollkommission, gab einfach seine Befehle, die Vertreter der Westmächte aber legten die Hände in den Schoß …” (S. 73 bis 76). Gewiß wurden durch die westlichen Alliierten verhängnisvolle Fehler begangen. Wäre aber nicht Hauptaufgabe einer historischen Darstellung von ungarischer Seite, die Fehler und Unterlassungssünden zuerst in den eigenen Reihen zu suchen?

Es ist auffallend, daß dieses stattliche Buch den Hauptakzent auf Unglück und Verrat legt und es nicht einmal versucht, die eigenen Handlungen und Pläne einer kritischen Analyse zu unterziehen. Die geradezu sehr naiv anmutende Sicherheit bei der Verteilung der Noten „vorzüglich” und „ungenügend” wird nur durch die schneidige Eleganz wettgemacht, mit der die Autoren über manche schweren Probleme hinweggehen, die einer gründlichen Untersuchung in unser aller Interesse gewiß wert wären. Die Schilderung des ungarischen Kommunismus bleibt im Feuilletonistischen stecken, sie ist eine Erzählung mit literarischen Pointen, aber ohne Ausblick nach vorn. Die Chronik der zehn Tage, „die die Welt erschütterten”, ist glänzend geschrieben. Solche Reportagen gehören aber in die Tageszeitungen. Von einem Buch über die ungarische Revolution oder über Ungarn, die ungarische Geschichte schlechthin, erwartet man mehr: etwa eine Darstellungsweise, die in ihre kritisch-selbstkritische Schau auch die Nachbarländer und letztlich auch die Gesamtentwicklung und die globalen Probleme unserer immer kleiner werdenden Welt einbezieht. Vielleicht gehört es mit zur „Tragödie” der Länder des Donauraumes, als eine der Ursachen der vielen Tragödien in diesem Raum, daß solche Bücher schon immer rar waren und anscheinend immer seltener werden.

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