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Ein paar Dutzend Kilometer vor Berlin trafen einander 200 Reiter zur Hubertusjagd, der größten Veranstaltung dieser Art in Europa. Eine Jagd ohne Waffen und ohne Beute.

Um neun Uhr genießt das Frühstücksbuffet die größte Attraktivität. So schnell können die hilfreichen Damen gar nicht die Schmalzstullen schmieren, sind sie auch schon mittels gierig ins Zelt gereckter Hände vom Silbertablett geräumt. Bundeswehrsoldaten dirigieren die andrängelnde Menge und zweigen, weil an der Quelle stehend, so manchen Brötchenteller zur Truppenverpflegung ab.

Um elf Uhr verlagert sich das Interesse der etwa 500 Besucher ins Zelt gegenüber, da ist nämlich Sektempfang angesetzt. Das Drängen ist beängstigend. Mancher schleppt gleich mehrere Gläser, zwischen die Finger gesteckt, davon. Im Kopf mischen sich zwei Lieder von Reinhard Mey: "Die heiße Schlacht am kalten Buffet" und "Diplomatenjagd". Letztere beginnt um 12 Uhr, die 2. Internationale Hubertusjagd der Sportgemeinschaft des Deutschen Bundestags. Ein paar Ansprachen, während derer die Leute vom Gestüt in blauen Uniformen steifgefrorenen Reitern aufs Pferd helfen. Bläser aus Hessen setzen ihre in der scharf-kalten Sonne glitzernden Hörner an. Trara und Halali. Zwei balgende Hundemeuten rudeln zwischen Pferdebeinen herum, werden von den Ausreitenden vorangespült. Die Gäste besteigen die Kutschen und die Autobusse 1 bis 7. Ein paar hundert Meter, und die schneeweißen Gelenkbusse der "Ostprignitz-Ruppiner Nahverkehrsgesellschaft" graben sich durch eine Wiese. Alles aussteigen, alles warten - woher mögen sie kommen? In der Allee sind die Kremser vorgefahren, die Insassen haben die Decken beiseite geschoben und spazieren über die Wiese heran. Die voyeuristische Jagdgesellschaft wogt bis zu einem naturgegebenen Rubikon, einer schlammigen Fahrspur.

Da, rechts vorne, hoppeln die Hunde wie eine Großfamilie Hasen mit langgestreckten Körpern übers Feld daher, die Beagles der ersten Meute. Dahinter spannen sich sehnig die Rösserleiber, die wie ölig schwarz und braun glänzen. Und schon sind sie an der Baumreihe entlang auf der nächsten Wiese verschwunden. Schon kündigt sich die nächste Meute an, im Wäldchen bellt es vielkehlig und nervös. Sie ziehen vorbei, erst die sich zuckend krümmenden Striche, dann Ross und Reiter. Der heiße Atem von Mensch und Pferd vermischt sich. Ein paar Tiere sind vor der wässrig glänzenden Fahrspur des Feldweges irritiert, springen aber dann doch darüber. Eine Meute ist ein de-individualisierter Hund zur Potenz. Kein Rex, keine Diwanwalze, kein Zerberus - nur eine auf Reizbeantwortung reduzierte Maschine. Auch die Reiter sind, wenngleich elegant, doch ziemlich uniform: Rote Jacken mit schwarzen Borten und schwarzen Kappen zu weißen Hosen, die in schwarzen Stiefeln stecken. Oder moosgrüne Livrées, die an Liftboys im Hotel erinnern. Nur eine Reiterin erregt wegen des Damensattels Aufsehen.

Die Bläser intonieren schief, und wieder hinein in Busse und Kutschen. Bus 1 hat keinen Saft mehr, Kabel raus und am Traktor angeschlossen. "Tut sich nüscht", ruft der Fahrer. Wie hört sich das Bläsersignal für "Bus tot" an? Das einzige, was startet, ist das Autoradio. "Mendocino". Saft von Bus 2. "Do You really want to love me", knistert das Radio. Nichts. Der Traktor schleppt an. "Take a chance on me", und auch der Rest des Busses lebt wieder auf. Wäre dies nicht eine virtuelle Jagd ohne Waffen und jagbare Tiere, nur der "Schleppe", einer ausgelegten Duftspur folgend - jedes noch so waidwunde Wild hätte inzwischen in umliegenden Zoos bequem um Tierasyl angesucht.

Wie bei Fontane ...

Die zweite Station erstreckt sich in Form von ein paar Dutzend weiß gedeckter Stehtischchen in einer Wiese hinter einem Stall in Fachwerkbauweise. Hilton schenkt Gulasch und Erdäpfelsuppe aus, dazu den ersten Glühwein der Saison. Alles schlemmt, die Ökonomie der Kräfte setzt sich durch: Möglichst viel Magenfüllung für die Teilnahmegebühr von 350 Schilling erzielen. Die Pferde bekommen nichts außer der Decke, elegantem gelbgesäumtem Stoff, der ihnen über den müden Rücken geworfen wird. Ein Sanitäter lotst gelassen per Handy ein Einsatzfahrzeug ins Gelände: Eine Reiterin ist gestürzt, Schulterprellung oder Schlüsselbeinbruch.

Golden leuchtet der Bilderbuch-Jagdtag über das vergilbende Blattgepluster und die aufgestampfte Erde. Birken rascheln dezent an den Feldwegen. Herbstlicher kann der brandenburgische Herbst nicht sein, Theodor Fontane würde es bestätigen.

Auf der Wiese beim Wasserturm ist nach einem neuerlichen Vorbeizug der beiden Jagdgesellschaften rund um ein Holzfeuer das Schlusshalali angesetzt. Es beginnt zu dämmern. Die Zuschauer spazieren zurück zu den barocken Zweckbauten. "Friedrich Wilhelm II. errichtete dieses Gestüt zum Besten des Landes 1788", liest man über dem Haupteingang. Es waren ökonomische Gründe, die in Preußen die Pferdezucht zur Staatsaufgabe machten. Sie war schlecht entwickelt, die Tiere wurden in Polen, Dänemark, Sachsen und Österreich eingekauft. Das belastete den Staat finanziell. Tierzüchterisch war es richtig gedacht: Sind die Vatertiere auf hohem Niveau, steigt auch die Qualität der Stuten. So wurden für die Zucht von Vatertieren Landgestüte gegründet, für die Elitestutenhaltung Hauptgestüte. Das erste gab es ab 1732 in Ostpolen, das zweite war schon jenes in Neustadt an der Dosse. Hier gab es bereits ein Maultiergestüt, auch die Nähe von Berlin und Potsdam ließen die Wahl auf die Stadt im Brandenburgischen fallen.

600 Hektar war das Areal groß: Zu je einem Drittel Weide, Wald und Acker. Heute werden hier 380 Pferde versorgt, 60 davon sind in Ausbildung oder Pension. Im Bestand befinden sich Vertreter der bekanntesten deutschen Hengstlinien. Pferde für den Turnier- und den Freizeitsport werden hier gehalten, zu DDR-Zeiten standen auch die Haflinger noch hoch im Kurs. Vor zwei Jahren wurde ein Hengst um zehn Millionen Schilling nach Großbritannien verkauft.

Als einer von acht Standorten in Deutschland betreibt das Gestüt in Neustadt eine Pferdeleistungs-Prüfanstalt. Hinzu kommt in Ostdeutschlands größtem Gestüt mit 65 Mitarbeitern eine Reit- und Fahrschule. In der DDR waren Haupt- und Landesgestüt zwei getrennte Betriebe, 1992 wurden sie wieder zusammengeführt, vor zwei Jahren wollte das Land Brandenburg das Hauptgestüt privatisieren, gab diesen Wunsch aber nach heftigen Protesten in der Bevölkerung auf.

"Stadt der Pferde"

Seit September dieses Jahres ist das Gestüt Neustadt an der Dosse eine Stiftung. Gleichzeitig hat es sich eine neue Aufgabe vorgenommen: Neustadt soll seinem Namen als "Stadt der Pferde" Ehre machen. In der Gesamtschule der Stadt wird seit dem heurigen Schuljahr Reitausbildung als Sportunterricht angeboten. 17 Schüler der 7. Klasse haben heuer damit begonnen, in vier Jahren soll aus dem Schulversuch eine "Schule mit besonderer Prägung" werden. Wöchentlich 140 Schüler würden auf diese Weise Reiten lernen und dafür auch im Zeugnis benotet werden.

Es ist inzwischen finster geworden - und empfindlich kalt. Während die Hunde mit jener Innerei belohnt werden, der sie anhand von Pansenlösung den ganzen Tag nachgehetzt waren, bietet die Feldküche den Zweibeinern Eintopf an, das in der Einladung groß angekündigte "Jagdessen". In der alten Reithalle stellen sich Reiter und Gäste geduldig um Caipirinha an. 17 Uhr 30, der große Zapfenstreich beginnt: Soldaten tragen Fackeln heran, und die hessischen Bläser lassen die Töne mitunter wie von einer eiernden Schallplatte aus ihrem rundlichen Blech.

Nachher sind die Waidmänner und -frauen in der Reithalle schon recht fröhlich, kichern und johlen gegen die in die Gelenke kriechende Kälte an. Es ist 20 Uhr und der Busshuttle fährt zum Bahnhof. Einer, den Hut schief auf dem Kopf, fixiert verschleierten Blicks die gemusterte Polsterung des Sitzes vor ihm, während die Hälfte der Bus-Belegschaft "Hoch auf dem gelben Wagen" trällert.

Waidmanns-Abdank.

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